Thread: Meine Rückkehr zur normalen Arbeitszeit
Die Vereinbarkeit von Karriere und Familie ist für viele Eltern eine große Herausforderung, insbesondere wenn mindestens ein Elternteil Schicht- und Wochenenddienste leisten muss. Gerade in systemrelevanten Berufen sind diese Arbeitszeiten jedoch weit verbreitet. Der Spagat zwischen Beruf und Familie kann besonders schwierig werden, wenn die Kinder noch sehr jung sind und viel Zeit und Aufmerksamkeit benötigen. Für betroffene Eltern bedeutet dies oft, dass sie weniger Zeit für ihren Nachwuchs haben und sich im Ernstfall auf die Hilfe anderer Personen, wie Großeltern oder Babysitter, verlassen müssen. Dies kann dazu führen, dass sie sich selbst schuldig und die Kinder sich vernachlässigt fühlen. Vergessen wir auch nicht, dass die Work-Life-Balance ein wichtiger Faktor ist, um ein glückliches und erfülltes Leben zu führen. Es ist wichtig, dass Eltern genügend Zeit und Energie haben, um sich um ihre Kinder und ihre eigenen Bedürfnisse zu kümmern. Sonst droht nämlich früher oder später ein Burnout.
Sich Unterstützung zu suchen, um sicherzustellen, dass die Kinder gut versorgt sind und sich nicht vernachlässigt fühlen, mag ein Schritt in die richtige Richtung sein. Dies kann durch die Einbeziehung von Familienmitgliedern oder professionellen Diensten wie Kinderbetreuung und Haushaltshilfen erfolgen. Allerdings ist dies auch mit Aufwand und Organisation verbunden. Es hat zudem den Nachteil, dass man trotzdem wertvolle Zeit mit seinen Kids verpasst. Wir können deshalb jeden verstehen, der irgendwann an einen Punkt kommt, an dem er lieber geregelteren Arbeitszeiten nachgehen möchte. So erging es auch der Twitteruserin @wattenichsachs, die ihre Gedanken in dem nun folgenden Thread verewigt hat.
Eine paar Gründe, warum ich entschieden habe, zu normalen Arbeitszeiten zu arbeiten. Ein Thread.
(Spoiler: Golfplatz und Kohle ohne Ende kommen gar nicht vor! 😮)
1/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Bevor ich mich in der Praxis niedergelassen habe, habe ich wie üblich in der Klinik gearbeitet. Ich war Oberärztin in einem mittelgroßen Haus, hatte einen Schwerpunkt, der mir Spaß gemacht hat. Ich glaube, ich hab die Sache gut gemacht.
2/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Die Anfahrt zur Klinik war zu lang, als dass ich die Bereitschaftsdienste von zuhause hätte machen können. Das hieß: Übernachtung in der Klinik. Gerne von Freitag früh bis Montag Abend. Bezahlt wurde natürlich nur die Rufbereitschaft.
3/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Übernachtet habe ich auf einem 90 cm-Klappsofa in meinem 9 qm-Büro. Mein Rücken konnte sowas noch, ich war erst 32. (Mit den Jahren fand er das immer weniger gut.). Einen Heiligabend haben wir zu zweit da genächtigt – nicht annähernd so sexy, wie es klingt.
4/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Ich hab dann eine Tochter bekommen und nach der Elternzeit diese Dienste kaum noch ertragen. Ich hab in jedem Dienst in dieser Klinik festgehangen, während zuhause mein Kind größer wurde, ohne dass ich teilhaben konnte. Das hat mich unendlich frustriert.
5/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Also haben wir unser Haus verkauft und ein neues gekauft. Hauptkriterium: der Kreißsaal muss in ca. 10 Minuten erreichbar sein. Keine leichte Aufgabe. Hat aber geklappt und es ist natürlich ein Privileg, dazu in der Lage zu sein!
6/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Ab sofort war ich in den Diensten mehr zuhause. Natürlich immer nervös zum Handy schielend, Empfang überprüfend, in ständiger Anspannung. Neben der Tür standen die Schuhe, der Autoschlüssel griffbereit, nachts Klamotten so gelegt, dass man sofort reinspringen kann.
7/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Oder alternativ im Kasack gepennt, damit man noch weniger Zeit verliert. Das Auto immer in die richtige Richtung geparkt. Im Falle eines Kreißsaalnotfalls zählt jede Minute. Auf keinen Fall Zeit verlieren!
8/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Der Dienst von zuhause hat neue Herausforderungen mit sich gebracht. Ein Kleinkind, das nicht verstanden hat, warum das Telefon ALLES unterbrechen darf. Ein Mädchen, das sich mir weinend in den Weg gestellt hat, damit ich nicht schon wieder gehe.
9/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Ein Kind, das offensichtlich nicht verstanden hat, warum die Mama manchmal nur so halb da ist, ständig die Gedanken woanders. Das völlig irritiert ist, weil die Mutter es hektisch von ihrem Bein abpflückt, um rauszueilen.
10/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Viele Fragen aus der Klinik haben sich telefonisch klären lassen. AssistentInnen haben vor Ort die Stellung gehalten. Meine Frau war immer sehr beeindruckt, dass ich aus dem Tiefschlaf sofort hellwach komplexe Fragen beantworten konnte, um danach sofort weiter zu schlafen.
11/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Irgendwann hat genau das nicht mehr so gut geklappt. Ich war zunehmend total daneben, wenn ich aus dem Schlaf gerissen wurde, musste mir Fragen nochmal erklären lassen, bin danach stundenlang nicht mehr eingeschlafen. Der Wecker ging natürlich trotzdem um 6 – Sprechstunde!
12/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Dann ging es los, dass nicht nur der folgende Arbeitstag, der, Dienst oder nicht, um 7.30 begann, Folter war, sondern ich tagelang unausgeschlafen und gereizt war. Hatte ich mich erholt, stand der nächste Dienst an.
13/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Wenn es einen echten dringenden Notfall gab – Notsectio! – war die Fahrt in die Klinik halsbrecherisch. Glatteis, Regen, Sturm, Wildwechsel und natürlich die zu durchquerende Tempo 30-Zone, alles Teil des Abenteuers. Und ständig wie besoffen vor müde.
14/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
An einem Abend habe ich nach OP mitten In der Nacht mein Auto im Parkhaus an den Pfeiler gesetzt. Der war geradeaus hinter mir, deutlich zu sehen. Bin trotzdem reingebrettert. Ich weiß bis heute nicht, wieso. Autofahren war eigentlich fahrlässig, aber operieren ging klar.
15/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Und dann kam eines nachts mein Schlüsselerlebnis: ich bin aufgewacht und fand mich in meinem fahrenden Auto. Auf der Landstraße. Und ich wusste einfach nicht, was ich gerade hier mache. Mitten in der Nacht, dunkel, ich fahre offensichtlich irgendwo hin.
16/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Ich war ja aber erfahren, hab mir also hergeleitet, dass ich wohl unterwegs in den Kreißsaal bin. Nur wollte mir ums Verrecken nicht einfallen, was die da nochmal von mir wollten. Ich konnte mich nicht erinnern, angerufen worden zu sein.
17/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Ich habe die ganze 10minütige Fahrt gebraucht, um mir mühsam zusammenzukratzen, was ich dort als nächstes zu tun habe.
Das Erlebnis hat mich zutiefst erschüttert. Es war klar, dass ich das so nicht weitermachen kann. ich war 43. Wie sollte das mit 50 aussehen? Mit 60?
18/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Wann würde der Tag kommen, an dem ich nicht mein Auto schrotte, einen Fuchs überfahre oder schlaftrunken hinklatsche, sondern eine Patientin in Gefahr bringe, weil ich übermüdet Dinge tue, die volle Konzentration und Aufmerksamkeit erfordern?
19/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Ich habe die Konsequenz gezogen und mich entschieden, in den ambulanten Bereich zu wechseln und mich niederzulassen. Dabei habe ich auch Dinge aufgegeben, die ich sehr gerne gemacht habe. Ich habe Sicherheiten aufgegeben. ich wurde Unternehmerin.
20/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Das war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Ich möchte nie mehr so arbeiten wie damals. Und ich bin unendlich dankbar, dass andere es tun, weil es getan werden muss.
21/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Also: komm mir keiner mit mangelnder Leistungsbereitschaft. Vielen Dank, ich hatte schon.
22/x— ApocalypseNotNow (@wattenichsachs) December 22, 2022
Das sagen andere User:
Na, habt ihr euch in den oben genannten Zeilen irgendwo wiedergefunden? Dann hinterlasst uns doch einen Kommentar, wie ihr damit umgeht, Schichtdienst und Familie unter einen Hut zu kriegen. Was die Leserinnen und Leser dieses Threads zu sagen hatten, das erfahrt ihr jetzt hier:
Fühl ich als Ex-Beleghebamme 24/7 RB so sehr! 💔
— La_Levatrice (@La_Levatrice) December 23, 2022
Gewissen nicht mehr vereinbaren 😓
— Unfallchirurg (w) (@UnfallchirurgW) December 23, 2022
Danke. Tut weh. Wie ihr verheizt werdet aus Bequemlichkeit in der Entscheidungsebene. Statt nachhaltig umzusteuern was möglich ist (guckt in Nachbarländer)
— EuroPhiline (@EuroPhiline) December 23, 2022
Was für ein guter, nachvollziehbarer Bericht.
Eine Freundin von mir arbeitet auch in der Klinik. Erfüllend, herausfordernd, aber eigentlich nicht machbar.— Sneakiepie (@sneakiepie11) December 23, 2022
Unser ehemaliger Nachbar hat damals schon die Klinik aufgegeben und ist in eine Gemeinschaftspraxis gewechselt. Das ist 40 Jahre her, aber er sagte das geht nicht mehr und mir Familie erst recht nicht.
— iris (@memories2019_12) December 23, 2022
Ich halte sowas von den Krankenhäusern und den Krankenkassen für fahrlässig gegenüber den Menschen die hilfe leisten und denen die sie brauchen. Wir haben ein sehr gutes Gesundheitswesen, aber bestimmte bereiche sind unter aller Würde!
Ich wünsche alles Glück für die Zukunft!— Whisper (@theJackWhisper) December 23, 2022
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Passend dazu hätten wir noch diesen Beitrag: