Thread: Genau deswegen habe ich seit vielen Jahren Angst
Triggerwarnung: Dieser Beitrag enthält Aufnahmen und Beschreibungen von Übergriffen
Am 3. März diesen Jahres tat die 33-jährige Sarah Everard etwas völlig Gewöhnliches. Gegen 21 Uhr verabschiedete sie sich von ihrer Freundin und machte sich zu Fuß auf den Heimweg. Sie kam nie zu Hause an. Tage später wurde ihre Leiche in einem Wald in Kent, Großbritannien, gefunden. Sarah Everard wurde ermordet. Nach derzeitigem Ermittlungsstand von einem Mann. Der Mord an der jungen Londonerin erschüttert uns alle und wirft Licht auf eine unangenehme Tatsache: Auch im Jahr 2021, auch in einer Großstadt mit einer außergewöhnlichen Dichte an Überwachungskameras, kann eine Frau Opfer eines Gewaltverbrechens werden.
Was Sarah Everard geschehen ist, lässt sich nicht als Einzelfall abtun. Aus einer kürzlich erschienenen Studie der britischen Vertretung von UN Women (Vereinte Nationen) geht hervor, dass 97% der 18- bis 24-jährigen befragten Frauen sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum erfahren haben. 97%! Und noch ein Fakt: Statistisch sind fast alle Mörder und Sexualstraftäter Männer. So wie mutmaßlich bei Sarah Everard. So wie beim Attentat in Atlanta vergangene Woche, bei dem acht Frauen von einem Amokläufer erschossen wurden.
Jetzt geht ein Instagram-Video des Bloggers Agon Hare viral. In dem Video, das am Ende dieses Beitrags zu finden ist, sehen wir mehrere junge Frauen, die an verschiedenen Orten unterwegs sind und sich filmen. Es sind bedrückende Aufnahmen. Wir erleben, wie diese Frauen von Männern bedrängt werden. Sie werden wiederholt angesprochen, obwohl sie dies offensichtlich nicht möchten. Obwohl sie „no“ sagen oder „stop“, sich wegdrehen, ablehnende Gesten machen. Sie werden angefasst. Belästigt. Verfolgt. Eine fühlt sich dazu genötigt, sich in einem Geschäft zu verstecken. Als sie herauskommt, hält ein Auto an; ein weiterer Mann steigt aus, um ihr ein Gespräch aufzuzwingen.
Bei Twitteruserin @Gnu_Official_ wecken genau diese Bilder schlechte Erfahrungen.
Ich habe seit vielen Jahren Angst mit Bus oder Bahn zu fahren aufgrund solcher Typen! Die immer wiederkehrenden negativen Erfahrungen haben bei mir sogar dazu geführt, dass ich sobald es Dunkel wird große Angst habe draußen zu sein. https://t.co/VEEj0N1H8r
— Gnu (@Gnu_Official_) March 17, 2021
Und ich möchte nie wieder hören: „so schlimm war es doch gar nicht“ oder „du übertreibst doch“
— Gnu (@Gnu_Official_) March 17, 2021
Die Männer in diesem Video verstehen nicht, dass das Verhalten der Frauen totale Überforderung ist. Und nicht aussagt, dass sie das wollen! Ich kenne solche Situationen und man weiß anfangs einfach nicht wie man darauf reagieren soll.
— Gnu (@Gnu_Official_) March 18, 2021
Wie gerecht, wie gleichberechtigt ist eine Gesellschaft, in der eine Frau es aus Angst vor Belästigung vermeidet, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen oder im öffentlichen Raum unterwegs zu sein?! Hunderte Frauen kommentieren den Thread von @Gnu_Official_ und berichten von ihren eigenen, häufig ähnlichen Erfahrungen. Was klar wird: Das Problem ist sogar noch größer als das Verhalten Einzelner. Im Video wie auch in den Kommentaren wird angemerkt, dass den Opfern gegenüber genau diese Übergriffe heruntergespielt werden. Die soziale Bagatellisierung bestärkt Übergreifer in ihrem Verhalten und stigmatisiert Opfer gleichzeitig als überspannt, lächerlich oder schlichtweg im Unrecht.
Auf den Weg zurück nach Spandau war es für mich total normal mir ne andere Frau zu suchen, mit der ich sitzen und quatschen konnte. Man hat sich regelrecht suchend nacheinander umgesehen. :X
— Honeyball (@HoneyballCookie) March 18, 2021
🥺 Ich habe mich irgend wann immer nur hinter den Bus Fahrer gesetzt damit niemand neben mich kann. Oder immer an den Gang Fakt mich niemand mehr festhalten kann
— Gnu (@Gnu_Official_) March 18, 2021
Leider selbst schon einige Male erlebt.. u.a auch Zuhause, von Handwerkern oder von Lieferanten an der Tür an Bauch/Arm/Brust begrapscht worden. Als ich mich über ihn beschwert habe, wurde ich lediglich ausgelacht und mir wurde gesagt ich würde lügen, er hätte ja Frau und Kind.
— Bia (@BiaLilien) March 18, 2021
Es ist einfach so schlimm , dass wirklich jedes Mädchen das ich kenne (inklusive mir) mehrere solcher Erfahrungen hat machen müssen und das schon ab einem echt jungen Alter.
— Hannah Paula (@its_kokolores_) March 18, 2021
Fühle ich komplett. Bin in der Öffentlichkeit auch sehr paranoid und habe immer das Gefühl, dass aus jeder Ecke irgendwas kommt worauf man nicht vorbereitet ist.
— Fr0zenNoahAT ⚡ (@Fr0zenNoahAT) March 17, 2021
Ich leider auch.. ich habe so schnell wie möglich meinen Führerschein gemacht um das alles zu vermeiden. Aber, es lässt sich nie komplett meiden, leider. 🥺
— luli (@Luliofficial_) March 17, 2021
Vor ein paar Jahren lauerten mir 3 Männer vor dem Fitnessstudio auf. Einer von ihnen kam auf mich zu. Fragte mich aufdringlich ob ich mich mit ihm treffen will. Als ich sagte das ich verheiratet sei glaubte er mir nicht und wollte auch nicht auf Abstand gehen. Hatte danach Angst
— xTuffix (@xTuffix) March 18, 2021
Alleine zu meinem Auto zu gehen. Suchte mir dann einen jungen Mann und fragte ihn ob er mich zu meinem Auto begleiten würde.
Solche Dinge passieren erschreckenderweise auch regelmäßig auf meiner Arbeit (bin Krankenschwester).— xTuffix (@xTuffix) March 18, 2021
Viele männliche Twitteruser reagieren überrascht auf das Video und die Intensität, mit der Frauen belästigt werden. Es ist trauriger Teil dieses strukturellen Problems, dass einem großen Anteil der Bevölkerung nicht bewusst ist, wie ernst die Situation ist. 97% der jungen Frauen bedeutet auch, dass Mädchen von klein auf damit konfrontiert werden, einer permanenten Bedrohung ausgesetzt zu sein. Sätze wie: „Melde dich, wenn du daheim angekommen bist.“ sind in ihrer Lebensrealität genauso selbstverständlich wie das Meiden dunkler Straßen, die Übertragung des Standorts oder der Blick über die Schulter.
Also ich bin sprachlos… was manche sich echt erlauben. WTF! Schäme mich ein wenig ein Mann zu sein, ich weiß, jeder weiß das nicht alle so sind, aber dennoch. Hut ab an alle die den Personen geholfen haben und eingeschritten sind, als sie komplett überfordert waren. 1/2
— Gruhp (@gruhp) March 18, 2021
WTF, passiert das wirklich in so einer extremen Häufigkeit? Das war mir gar nicht so bewusst. Tut mir wirklich Leid. Habe immer gedacht, dass das eher die unangenehme Seltenheit ist, solche Creeps zu „erwischen“.
— GameroTV (@GameroTV) March 18, 2021
An die Männer: wer sowas in der Öffentlichkeit mitbekommt und ignoriert trägt genau so schuld. Schade zu sehen wie die Menschen vergessen was Respekt ist. Schön das du das Thema ansprichst! Danke dir
— Mun1ch (@Mun1chCS) March 18, 2021
Ich arbeite im ÖPNV und habe das bisher 2x erlebt, dass junge Frauen auf mich zukamen und um Hilfe gebeten haben. Da ist man selbst aufgeregt und hofft, dass diese Typen kommentarlos verschwinden ohne Ärger zu machen. Ist doch ätzend als Frau auf dem Präsentierteller zu sitzen.
— peet (@Split_90) March 18, 2021
Am Ende des Videos ist übrigens ein Mann zu sehen, der sich selbst dabei filmt, wie er Frauen gegen übergriffige Männer verteidigt. Seine Geste ist bemerkenswert, verdient Respekt und sollte Nachahmer finden. Und dennoch müssen wir eine Gesellschaft anstreben, in der sie überflüssig ist.
Das vollständige Video von Project Nightfall findet ihr hier:
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Anmerkung: Körperliche Übergriffe, sexualisierte Gewalt, Nötigung – all diese Dinge sind für viele Frauen Alltag! Sie sind so selbstverständlich, dass darüber in der Regel nur berichtet wird, wenn es zum Schlimmsten kommt. Und dann findet dies häufig mit einem gewissen Framing statt. Auch in unserer Einleitung finden sich mehrfach Stichworte, die dort, wo über sexualisierte Übergriffe und Gewalt berichtet wird, eigentlich nichts zu suchen haben: „in einer Großstadt“, „am Tag“. Inhaltlich ähnliche Begrifflichkeiten fallen praktisch immer, wenn diese Themen diskutiert werden. „Sie trug keine aufreizende Kleidung.“ „Sie war aus diesem und jenen Grund so spät unterwegs.“ „Sie hatte nichts getrunken.“ Es sind vorauseilende argumentative Verteidigungsmechanismen, die hier genutzt werden, so als würde ein bestimmtes Verhalten einer Frau eine gewisse Einladung implizieren. Es MUSS gleichgültig werden, was eine Frau trägt, wo und wann sie unterwegs ist und was der Grund dafür ist. Ein Opfer hat niemals Schuld an einem Übergriff.