Thread: Lob zahlt keine Miete
Es ist kein Geheimnis, dass Fachkräfte im Gesundheits- und Pflegebereich in Deutschland deutlich weniger als Arbeitnehmer mit vergleichbarer Qualifikation in anderen Berufen verdienen. Dass soziale Dienstleistungen allgemein schlecht bezahlt werden, hat nachweislich zwei Gründe: der hohe Frauenanteil und die fehlende finanzielle Wertschätzung. Oftmals handelt es sich bei diesen „typischen Frauenberufen“ um Hilfstätigkeiten, die eben weniger einträglich sind als die üblichen männerdominierten Berufe. Doch zurück zum medizinischen Bereich im Speziellen. Gemessen am mittleren Einkommen aller Beschäftigten, verdienen ausgebildete Pflegerinnen und Pfleger in kaum einem anderen Land so wenig wie bei uns.
Nur jede zweite Pflegekraft wird nach Tariflohn bezahlt. Überstunden, Schichtdienst und eine dünne Personaldecke waren schon vor Beginn der Pandemie ein Problem. Die Coronakrise war nur eine zusätzliche Belastung, ein Brennglas in einem kaputten System, das beschleunigt hat, was sowieso früher oder später eingetreten wäre. Laut Bundesagentur für Arbeit waren im Mai diesen Jahres sage und schreibe rund 40.000 Pflegestellen unbesetzt. Tendenz steigend. Die Pflegereform von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sieht zwar höhere Löhne und eine Tarifbindung für Pflegeeinrichtungen vor, doch gemessen an anderen Berufen dürfte das noch viel zu wenig sein, um dieses Berufsfeld attraktiver zu machen. Der Twitteruser @narkosedoc hat sich in dem nun folgenden Thread ausführlich mit der Diskrepanz aus Forderungen und der Vergütung der Leistungen beschäftigt.
Ich las etwas (ich weiß nicht mehr wo) und es arbeitete in mir. Ich habe lange versucht in Worte zu fassen was die Arbeit in der Klinik so anstrengend macht.
Es ist die Diskrepanz aus Forderungen und der Vergütung der Leistungen.— Narkosedoc (@narkosedoc) July 11, 2021
Lob zahlt keine Miete.
Und Wertschätzung wird sowieso nur dann inszeniert, wenn die Öffentlichkeitsarbeit mit der Kamera in der Nähe ist und man damit die SocialMedia-Kanäle füttern kann.
Lavendel, Stollen, Merci. Was eben gerade da ist und weg muss, hauptsache billig.— Narkosedoc (@narkosedoc) July 11, 2021
Gefordert werden Bereitschaftsdienste, Rufdienste, 24h-Notarztdienste und eine unterschriebene Opt-Out-Regelung dank derer man ganz regulär auf bis zu 70 Wochenarbeitsstunden kommen kann. Dank verschiedener Tricks (Freizeitausgleich etc.) werden deutlich weniger (45-50h) bezahlt.
— Narkosedoc (@narkosedoc) July 11, 2021
Und diese Arbeitsleistung sollen wir bitte immer fröhlich und ohne Klagen erbringen.
Sobald nämlich jemand Prämien oder Bezahlungen fordert, wie sie in der freien Wirtschaft üblich wären, wird an die karitative Nächstenliebe, an den Auftrag zu „helfen und zu heilen“ appeliert.— Narkosedoc (@narkosedoc) July 11, 2021
„Ihr könnt doch die PatientInnen nicht im Stich lassen!“
„Natürlich können Sie sich krank melden, aber sie wissen ja was das für ihre KollegInnen heißt, die müssen dann ihre Arbeit mit machen“.
„Wir haben früher 72h-Dienste gemacht, wir waren froh, dass wir arbeiten durften!“🤢— Narkosedoc (@narkosedoc) July 11, 2021
Ein Schulfreund ist Unternehmensberater geworden. Er arbeitet wie ich ca. 60h/Woche.
Er verdient ca. das Dreifache. Ohne Prämien.
Er rechnet komplexe Dinge, keine Frage. Keine Ahnung was passiert wenn er einen Fehler macht, aber es stirbt wahrscheinlich keiner.— Narkosedoc (@narkosedoc) July 11, 2021
Sagen wir es mal so – er war überrascht von meinem Gehalt. Er dachte ich würde zumindest genauso viel verdienen wie er, eher mehr. Ihm war es unangenehm über seine Coronaprämie zu reden und zu wissen, dass ich bis heute keine erhalten habe.
Und genau das ist vielleicht der Grund.— Narkosedoc (@narkosedoc) July 11, 2021
Es fehlt an echter Wertschätzung. Viele PatientInnen sind fordernd, mosern rum, bringen keine Geduld mit.
Von Vorgesetzten bzw. der Geschäftsführung und dem Controlling gibt es wenn überhaupt nur noch mehr Druck.— Narkosedoc (@narkosedoc) July 11, 2021
Und die finanzielle Wertschätzung? Naja, die hat mir der Schulfreund dann mal eingeordnet.
Es ist Jammern auf hohem Niveau, ganz sicher und ich bleibe in der Klinik, aber aus anderen Gründen.
Ich ziehe Kraft daraus Menschen im schlimmsten Moment ihres Lebens beizustehen.— Narkosedoc (@narkosedoc) July 11, 2021
Das ist dann zwischen diesem einen Menschen und mir. Das ist dann in dem Moment mehr Wert als Geld und Prämien.
Der Glaube daran etwas Gutes zu tun.
Ich hoffe, dass mich das noch eine Weile trägt.
Auch durch die nächste Welle.— Narkosedoc (@narkosedoc) July 11, 2021
Das sagen andere User:
Echte Wertschätzung sieht anders aus. Zwangsläufig kommen zwei Fragen auf: 1.) Wer soll diesen Job in Zukunft machen, wenn er auf lange Sicht nicht attraktiver wird? Und 2.) Wie soll das Ganze finanziert werden, wenn der Dienst am Menschen wirtschaftlich sein soll? Die treffendsten Kommentare haben wir hier für euch gesammelt.
Gesamte Gesundheitswesen ist unterbezahlt (außer vielleicht irgendwelche Klinikkonzernvorstände oder so). Ernte jedes Mal erstaunte Blicke, wenn ich mit den Apothekengehaltstarifen enthülle, dass wir auch nicht zu Deutschlands Spitzenverdienern gehören.
— Morphi (@apomorphin) July 12, 2021
Währenddessen schubsen Yuppies in maßgeschneiderten Anzügen Bitcoins hin und her, spekulieren mit Wasser und Lebensmitteln und wissen nicht, welches SUV sich als nächstes vor die Villa stellen sollen.
— Etz glangts aba 🔴🌈🔴 (@EtzGlangtsAba) July 11, 2021
Das ist anscheinend überall im Sozialbereich der gleiche Mist. War 20 Jahre sozial, aber nicht medizinisch tätig. Die beschriebenen Umstände könnte ich 1:1 so unterschreiben.
— arnulf dreckmann (@wortcotze) July 11, 2021
Mein Kumpel ist Informatiker. Er war etwa ein Jahr vor mir mit dem Studium fertig und sagte mal „das ist so krank, ich programmiere irgendwelchen Müll und verdiene mehr als jemand der Leben rettet“
— Die kleine Ärztin (@doktor_tante) July 12, 2021
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit. Wer will, kann hier noch mal reinschauen: