Thread: Warum nehmen wir Rücksicht auf die Rücksichtslosen? – Ein Rant
Wer in der letzten Woche die Nachrichten aktiv verfolgt hat, brauchte ein extrem dickes Fell. Die Schlagzeilen ließen einen aus dem Kopfschütteln kaum noch herauskommen. Wer bis dato noch nicht die Nase voll hatte von der deutschen Corona-Politik oder zumindest noch ein Fünkchen Hoffnung besaß, dass wir der 3. Infektionswelle besonnen entgegentreten würden, wurde bitter enttäuscht. Dafür gab es gleich mehrere Anlässe.
Da war zunächst die Eskalation der Querdenker in Kassel. Mehr als 20.000 Menschen demonstrierten dort nämlich gegen Corona-Maßnahmen, wobei viele ihrer Wut gegen die Beschränkungen freien Lauf ließen. Erlaubt waren übrigens nur 6000 Teilnehmer. Schlimmer noch, zahlreiche Demonstranten hielten sich nicht an die Mindestabstände und die Maskenpflicht, von den gewalttätigen Auseinandersetzungen und der Unfähigkeit der Polizei, der Lage Herr zu werden, ganz zu schweigen. Dabei wissen wir längst, welche Folgen solche Querdenker-Aufläufe haben. Einer im Februar veröffentlichten Studie zufolge haben die Demos gegen die Corona-Beschränkungen im letzten Herbst zu einer Ausbreitung des Virus wesentlich beigetragen. Ein Verzicht auf die Proteste bzw. ein Verbot der Demos am 7. November in Leipzig und am 18. November in Berlin hätte zwischen 16.000 und 21.000 Corona-Infektionen verhindern können. In Kassel hat man nun also diesen Fehler wiederholt. Schon allein dafür fehlt den Menschen, die im medizinischen Bereich arbeiten und somit im Kampf gegen die Pandemie an vorderster Front stehen, das Verständnis. Aber auch bei den Menschen, die sich seit einem Jahr diszipliniert an die Maßnahmen halten, machte sich großer Unmut breit.
Und dann kam die Ministerpräsidentenkonferenz, in der in zwölf Stunden Marathonsitzung zwei Tage Osterlockdown beschlossen wurden, der nun doch nicht kommen wird, weil er rechtlich nicht umsetzbar ist. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) entschuldigte sich zwar für ihren gescheiterten Versuch, durch die Osterruhe die 3. Infektionswelle brechen zu wollen, Verschärfungen wurden allerdings nicht besprochen. Stattdessen wurden Maßnahmen weiter gelockert und die zuvor vereinbarte Notbremse, die bei Inzidenz 100 greifen sollte, nur zum Teil oder gar nicht angewandt. Führende Ärzte, Wissenschaftler und Gesundheitsexperten zeigten sich entsetzt. Sie warnen davor, dass das Gesundheitssystem Mitte April an seine Belastungsgrenze kommen könnte. Die Zahl der Neuansteckungen pro 100.000 Einwohner und Woche ist mit dem heutigen Stand laut RKI so hoch wie seit Mitte Januar nicht mehr. Wir bräuchten jetzt einen zweiwöchigen harten Lockdown, um das Schlimmste zu verhindern. Bislang sieht es allerdings so aus, als werde der erst kommen, wenn die Intensivstationen vollgelaufen sind.
Dass den vielen Menschen im medizinischen Bereich, die tagtäglich an der Belastungsgrenze arbeiten, um Menschenleben zu retten, da die Hutschnur reißt, ist nicht weiter verwunderlich. Und so hat der twitternde Notarzt @narkosedoc seinem Frust freien Lauf gelassen und einen Thread bzw. Rant geschrieben, der die Ohnmacht, Wut und Fassungslosigkeit gegenüber der derzeitigen Corona-Politik auf den Punkt bringt.
Wenn eine einzige Querdenkerdemo für etwa 10.000 Neuinfektionen verantwortlich ist, dann ist das ein sehr hoher Preis den die vernünftige Allgemeinheit für die Versammlungsfreiheit egoistischer Schwurbler zahlen muss.
Warum nehmen wir Rücksicht auf die Rücksichtslosen?
CN Rant— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Auch harmlose Verläufe ohne Beatmung kosten im Schnitt etwa 7000€. Schwere Verläufe kosten schnell mal zwischen 30.000 bis 100.000 € (na, @fdp? Kosten!).
Und hier reden wir nur über die Akutphase, von #LongCovid, Verlust der Arbeitskraft und den Kosten ganz zu schweigen.— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Warum dulden wir das?
Diese Verwirrten sind davon überzeugt in einer Diktatur zu leben, die ihre Freiheitsrechte einschränkt und wir glauben sie zurück zu gewinnen in dem wir ihre Superspreaderevents weiter genehmigen?— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Wisst ihr warum mich das aufregt?
WEIL ICH DIE SCHEISSE AUSBADEN MUSS. NICHT DIE SPINNER DIE DA RUMLAUFEN!
Hier brennt der Baum, seit einem Jahr trage ich FFP2. JEDEN F**KING TAG! 10-12h sind mittlerweile völlig normal, manchmal auch 16 Stunden und länger.— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Diese bekackten Intensivtransporte mit COVID. Stundenlag sitzt man in diesen Plastikanzügen die dicht sind wie ein Ganzkörper-Regenparka. Mir läuft die Suppe am Rücken runter und mir dröhnt der Kopf weil es laut ist, wir uns anschreien müssen und die Patienten extrem krank sind.
— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Die COVID-Patienten in der Klinik zermürben. Wochenlang grottenschlecht, alles ist bei COVID-Patienten extrem. Kreislauf, Beatmung, Analgosedierung, Lagerung es ist einfach alles extrem. Kleinste Fortschritte – gefolgt von Rückfallen.
Aber wir können auch extreme Intensivmedizin.— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Wir versuchen uns selbst zu motivieren, sonst macht es ja keiner. Mit mehr Geld oder mehr Personal rechnet niemand mehr, da kommt nur lauwarme Luft, sonst nichts. Ausbaden müssen es die Patienten. Dann dauert es eben länger bis sie abgesaugt werden.
— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Und wenn mal einer so mutig ist und die Wahrheit ausspricht (@UK_Muenster) wird er mundtot gemacht und die PR-Abteilung übernimmt. Alles easy! Alles safe! Alle Patienten tip top versorgt. Am Arsch hängt der Hammer! Ihr wisst selber, dass das nicht stimmt. Warum decken wir das?
— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Zeigt den Leuten da draußen mal was die jahrzehntelange Sparerei aus einstiger Spitzenmedizin gemacht hat!
Ja, wir können immer noch ECMO, wir transplantieren sogar Herzen, aber das sind doch nur die schicken Aushängeschilder, die den schönen Schein bewahren sollen.— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Das Dienstpläne quasi von Woche zu Woche, teilweise nur tagesaktuell gemacht werden. Im Vergleich zu 1980 machen wir mit der Hälfte der Pflegekräfte die doppelte Fallzahl und das obwohl die Patienten immer älter und kränker und pflegebedürftiger werden.
— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Manche von uns arbeiten je nach Dienstplan 70 oder 80 Stunden pro Woche. Das sind fast zwei Vollzeitstellen in anderen Branchen, aber wir machen es möglich, weil sonst die Dienste nicht besetzt sind.
Es herrscht ein enormer Druck seitens der Kollegen und Vorgesetzten.— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Niemand meldet sich mal eben krank. Und wenn man krank ist wird per Whatsapp oder telefonisch täglich nachgefragt. Bist Du wieder fit? Kannst Du den Dienst machen?
Und wenn ich dann nein sage, weil ich nicht das vierte Wochenende in Folge arbeiten möchte, na dann ist was los.— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
„Als Entschuldigung gilt die eigene Beerdigung“ sagte mal jemand. Jaha, super lustig, was haben wir gelacht. Diese Kultur hat sich überall etabliert und das macht die Leute fertig. Guckt Euch mal das Durchschnittsalter auf Intensivstationen an. Das hat keine Zukunft.
— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Ich hätte auch Bock auf Mallorca. Ich würde mich dulli eine Woche an den Strand legen. Einfach mal nichts tun, niemanden hören müssen.
Aber es ist eben fucking egoistisch sich in einen Kack Flieger zu setzen und mit 300 Leuten so zu tun, als ob es Corona nicht gäbe!— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Dieses unstrukturierte, konzeptlose Hin und Her an allen Fronten macht mich mürbe.
Ich habe so keinen Bock mehr auf diese Politik!
Zivilisierte Länder wie NZ und AUS haben gezeigt wie man mit einer konsequenten Strategie hin zu #ZeroCovid hätte kommen können.— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Aber hier muss jeder Landespapst sein eigenes Wahlkampf-Süppchen kochen.
Coronademos hätte ich als erstes gestrichten, dann die Büros und so weiter. Konsequent statt nur Gelaber und Plexiglas überall.— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
@ArminLaschet und Co. strengen sich an, ja, aber ich glaube die kommen einfach intellektuell nicht mehr mit. Ich kann dem das nicht mal übel nehmen, der ist Jurist. Mit einer Rechtsanwaltsgehilfin (Gebauer) und einem Maschinenschlosser (Laumann) wird dann ein Kabinett daraus.
— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Die sind intellektuell überfordert.
Epdiemiologie, die Wissenschaft von der Entstehung, Verbreitung, Bekämpfung und den sozialen Folgen von Epidemien – das übersteigt bei weitem alles was dieses Kabinett kognitiv zu leisten imstande ist.— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Weil sie es aus der Politik gewohnt sind hören sie sich verschiedene Meinungen an. Und da zählt eine Meinung von @BrinkmannLab eben genauso viel oder wenig wie die Meinung des Sportredakteurs der eben meint, Samstag Bundesliga ist für die Auflage wichtig.
— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Ich werde auch in der dritten Welle dabei sein. Ich werde mein Team motivieren, wir werden unser Bestes geben, aber es wird anders als im März/April.
Alles was jetzt kommt ist mit Ansage, es gab Warnungen, Hochrechnungen, ihr (@ArminLaschet, @jensspahn) habt sie ignoriert.— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Alle Zahlen die wir gerade sehen wurden exakt so von großartigen KollegInnen wie @BrinkmannLab und @Karl_Lauterbach und @risklayer vorhergesagt.
15 Minuten Excel reichen um das zu verstehen, ihr wolltet (!) es nicht hören.— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Das Fazit:
Könnte man den Politikern für ihr Corona-Management Schulnoten geben, es würde Fünfen und Sechsen hageln. Wer im Angesicht der aktuellen Lage nicht wütend und frustriert ist, hat vermutlich schon vorher die Hoffnung aufgegeben oder begreift den Ernst der Lage gar nicht. Die Ausbreitung der Virusmutation ist technisch gesehen eine zweite Pandemie. Die Regeln aus dem ersten Jahr gelten nun nicht mehr. Das Virus breitet sich vermehrt auch unter jüngeren Menschen aus, hat eine höhere Ansteckungsrate, ist temperaturunempfindlicher und sorgt prozentual für mehr schwere Krankheitsverläufe. Ein Blick in die europäischen Nachbarländer gibt einen Vorgeschmack darauf, was uns in den nächsten Wochen erwartet, wenn hier nicht bald eingegriffen wird. Trotzdem dürfen wir nicht den Mut verlieren. Wir müssen uns damit abfinden, dass die Politik uns nicht retten wird. Jetzt liegt es mehr denn je an jedem einzelnen Bürger, die Infektionszahlen so niedrig wie möglich zu halten.
Danke fürs durchlesen.
Danke fürs zuhören.
Danke auch an alle, die uns immer wieder motivieren, obwohl sie selbst genervt sind.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in der Mehrheit sind. Das macht Mut!— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Trotzdem brauchen wir Veränderung.
Wir brauchen wirklich gute Leute in der Politik. Nicht nur Leute, die als Schülersprecher irgendwie im Stadtrat gelandet sind und sich vor allem selbst gut finden und zum eigenen Vorteil und für ihre Freunde Deals aushandeln.— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Wir brauchen einen mutigen Plan für die Zukunft und gute Leute wie @dahmen die das auch umsetzen können und sich nicht im Filz verfangen.
Digitalisierung, Gesundheit, Bildung, Klima. Dafür brauchen wir einen Plan.
Aber jetzt muss ich schlafen.
Die neue Woche wird anstregend.— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Quelle: https://t.co/KIe8n9coighttps://t.co/17SwpUxcJG
— Narkosedoc (@narkosedoc) March 20, 2021
Schön, dass ihr bis zum Ende durchgehalten habt. Wenn ihr noch mehr Lesefutter zur Thematik wollt, probiert es doch mal mit diesem Thread hier: