Thread: Warum nehmen wir Rücksicht auf die Rücksichtslosen? – Ein Rant

Chris Schröder 27.03.2021, 9:15 Uhr

Wer in der letzten Woche die Nachrichten aktiv verfolgt hat, brauchte ein extrem dickes Fell. Die Schlagzeilen ließen einen aus dem Kopfschütteln kaum noch herauskommen. Wer bis dato noch nicht die Nase voll hatte von der deutschen Corona-Politik oder zumindest noch ein Fünkchen Hoffnung besaß, dass wir der 3. Infektionswelle besonnen entgegentreten würden, wurde bitter enttäuscht. Dafür gab es gleich mehrere Anlässe.

Da war zunächst die Eskalation der Querdenker in Kassel. Mehr als 20.000 Menschen demonstrierten dort nämlich gegen Corona-Maßnahmen, wobei viele ihrer Wut gegen die Beschränkungen freien Lauf ließen. Erlaubt waren übrigens nur 6000 Teilnehmer. Schlimmer noch, zahlreiche Demonstranten hielten sich nicht an die Mindestabstände und die Maskenpflicht, von den gewalttätigen Auseinandersetzungen und der Unfähigkeit der Polizei, der Lage Herr zu werden, ganz zu schweigen. Dabei wissen wir längst, welche Folgen solche Querdenker-Aufläufe haben. Einer im Februar veröffentlichten Studie zufolge haben die Demos gegen die Corona-Beschränkungen im letzten Herbst zu einer Ausbreitung des Virus wesentlich beigetragen. Ein Verzicht auf die Proteste bzw. ein Verbot der Demos am 7. November in Leipzig und am 18. November in Berlin hätte zwischen 16.000 und 21.000 Corona-Infektionen verhindern können. In Kassel hat man nun also diesen Fehler wiederholt. Schon allein dafür fehlt den Menschen, die im medizinischen Bereich arbeiten und somit im Kampf gegen die Pandemie an vorderster Front stehen, das Verständnis. Aber auch bei den Menschen, die sich seit einem Jahr diszipliniert an die Maßnahmen halten, machte sich großer Unmut breit.

Und dann kam die Ministerpräsidentenkonferenz, in der in zwölf Stunden Marathonsitzung zwei Tage Osterlockdown beschlossen wurden, der nun doch nicht kommen wird, weil er rechtlich nicht umsetzbar ist. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) entschuldigte sich zwar für ihren gescheiterten Versuch, durch die Osterruhe die 3. Infektionswelle brechen zu wollen, Verschärfungen wurden allerdings nicht besprochen. Stattdessen wurden Maßnahmen weiter gelockert und die zuvor vereinbarte Notbremse, die bei Inzidenz 100 greifen sollte, nur zum Teil oder gar nicht angewandt. Führende Ärzte, Wissenschaftler und Gesundheitsexperten zeigten sich entsetzt. Sie warnen davor, dass das Gesundheitssystem Mitte April an seine Belastungsgrenze kommen könnte. Die Zahl der Neuansteckungen pro 100.000 Einwohner und Woche ist mit dem heutigen Stand laut RKI so hoch wie seit Mitte Januar nicht mehr. Wir bräuchten jetzt einen zweiwöchigen harten Lockdown, um das Schlimmste zu verhindern. Bislang sieht es allerdings so aus, als werde der erst kommen, wenn die Intensivstationen vollgelaufen sind.

Dass den vielen Menschen im medizinischen Bereich, die tagtäglich an der Belastungsgrenze arbeiten, um Menschenleben zu retten, da die Hutschnur reißt, ist nicht weiter verwunderlich. Und so hat der twitternde Notarzt @narkosedoc seinem Frust freien Lauf gelassen und einen Thread bzw. Rant geschrieben, der die Ohnmacht, Wut und Fassungslosigkeit gegenüber der derzeitigen Corona-Politik auf den Punkt bringt.

Das Fazit:

Könnte man den Politikern für ihr Corona-Management Schulnoten geben, es würde Fünfen und Sechsen hageln. Wer im Angesicht der aktuellen Lage nicht wütend und frustriert ist, hat vermutlich schon vorher die Hoffnung aufgegeben oder begreift den Ernst der Lage gar nicht. Die Ausbreitung der Virusmutation ist technisch gesehen eine zweite Pandemie. Die Regeln aus dem ersten Jahr gelten nun nicht mehr. Das Virus breitet sich vermehrt auch unter jüngeren Menschen aus, hat eine höhere Ansteckungsrate, ist temperaturunempfindlicher und sorgt prozentual für mehr schwere Krankheitsverläufe. Ein Blick in die europäischen Nachbarländer gibt einen Vorgeschmack darauf, was uns in den nächsten Wochen erwartet, wenn hier nicht bald eingegriffen wird. Trotzdem dürfen wir nicht den Mut verlieren. Wir müssen uns damit abfinden, dass die Politik uns nicht retten wird. Jetzt liegt es mehr denn je an jedem einzelnen Bürger, die Infektionszahlen so niedrig wie möglich zu halten.

Schön, dass ihr bis zum Ende durchgehalten habt. Wenn ihr noch mehr Lesefutter zur Thematik wollt, probiert es doch mal mit diesem Thread hier:

Thread: Wie der Bürgermeister einer kleinen Kommune die deutsche Corona-Politik sieht

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