Thread: Ein persönlicher Einblick in den gefährlichen Pflegenotstand
Erinnert ihr euch noch daran, dass vor wenigen Wochen an offenen Fenstern und auf Balkonen demonstrativ geklatscht wurde? Für medizinische Berufe, für Pflegepersonal. Unsere Politikerinnen und Politiker konnten kaum genug davon bekommen, zu betonen, wie wichtig und systemrelevant Pflegekräfte in diesem unseren Land doch seien. Welch großen Respekt wir vor der Leistung dieser Pflegekräfte in der Corona-Krise als Einzelpersonen aber auch als Gesellschaft haben müssen. Und auch, dass sich endlich etwas ändern müsse. An den Rahmenbedingungen in der Pflege. An der Arbeitsbelastung, an den Arbeitsbedingungen und auch an der dafür wirklich wirklich peinlichen Bezahlung. Dieses Mal wirklich, ganz sicher. Versprochen!
In den darauffolgenden Tagen hatte sich die Situation in Deutschland und in den Krankenhäusern und Kliniken rasch und stetig entspannt. Zumindest bezüglich der benötigten Intensivbetten und der Betreuung von Corona-Patienten, die in Deutschland getroffenen Maßnahmen zeigten glücklicherweise Wirkung. Doch damit einhergehend bewahrheitete sich anschließend einmal mehr die Redewendung „Aus den Augen, aus dem Sinn“. Corona schien in den Köpfen vieler bereits „besiegt“ – und bei den Pflegekräften läuft alles wie bisher. Mehr schlecht als recht, von wirklichen Veränderungen oder gar Verbesserungen bislang keine Spur. Es war leider zu befürchten …
In ihrem Thread berichtet Twitteruserin @mupfelia nun von ihrem Krankenhausaufenthalt und von den erschreckenden Erlebnissen, die sie dort im direkten Zusammenhang mit dem seit Jahren bekannten Pflegenotstand machen musste. Die gesamte Pflegebranche braucht dringend Veränderungen, denn die aktuelle Situation ist in vielerlei Hinsicht gefährlich!
Ein Thread-
Lieber Herr @jensspahn, ich weiß, dass sich manche Themen nicht „geziemen“, aber heute ist ein Tag, wo es mir egal ist.
Ich habe in den vergangenen 16 Monaten durch lange KH-Aufenthalte einen Einblick in den #Pflegenotstand bekommen können,— Julia (@mupfelia) June 29, 2020
der vielen Außenstehenden sicherlich haaresträubend vorkommt.
Ich will es kurz machen anhand eines Beispiels: vor 14 Tagen wurden mit die Unterschenkel in einer #Nachamputation abgenommen. Ich musste das Bett hüten, um die Narben nicht zu belasten. Zu groß die Gefahr,— Julia (@mupfelia) June 29, 2020
dass die Narben erneut aufgehen. Ich war bei jedem Handgriff (Waschen, Trinkflasche auffüllen, Toilettengang via Bettpfanne etc.) auf die Hilfe des Pflegepersonals angewiesen. Da wir hier in den vergangenen Tagen deutlich hochsommerliche Temperaturen hatten, sollte ich auch
— Julia (@mupfelia) June 29, 2020
Für genügend Flüssigkeitszufuhr sorgen. Sprich, ich habe meine 1,5 – 2 L Wasser getrunken. Die wollen auch irgendwann wieder raus. Sprich: Ich brauchte Unterstützung durch das Pflegepersonal mit der Bettpfanne. Durchschnittlich mind alle 2 Std. Was bei einer Wachzeit von
— Julia (@mupfelia) June 29, 2020
Geschätzten 14 Stunden am Tag einer Anzahl von 7x entspricht. Hieße: 14(!) klingeln. Ausnahmen nicht mitgerechnet. Wenn Sie dann als Patient mitbekommen, dass das Pflegepersonal bei einer voll ausgelasteten Station mit über 30 Patienten zum Teil nur zu zweit mit Pflegehilfe ist,
— Julia (@mupfelia) June 29, 2020
merken Sie sehr schnell, wie wenig Zeit für jeden einzelnen ist. Oder, um es mal auf den Punkt zu bringen: wie lange Sie warten müssen, bis Ihnen jemand für Ihr dringendes Bedürfnis eine Bettpfanne bringt bzw. Ihnen hilft, von der gefüllten Bettpfanne runter zu kommen.
— Julia (@mupfelia) June 29, 2020
Und wohl gemerkt: wir sprechen hier nicht von einem klinischen Notfall! Ich wage es mir nicht auszumalen, was passiert, wenn wirklich jemand auf sofortige Hilfe angewiesen ist unter diesen Umständen. Der Auslöser für diesen Thread war das heutige Erlebnis,
— Julia (@mupfelia) June 29, 2020
dass ich mich trotz Schmerzen in den Amputationsstrümpfen in meinen Rollstuhl gesetzt habe, um auf die Toilette zu fahren. Allein aus dem Grund, um dem Pflegepersonal weniger Arbeit zu machen. Es kann nicht sein, dass Patienten gesundheitliche Probleme
— Julia (@mupfelia) June 29, 2020
in Kauf nehmen müssen, nur weil die Gesundheits- und Krankenhauspolitik nicht in der Lage ist, den #Pflegenotstand in Angriff zu nehmen. Wir haben in vielen Teilen sicherlich noch ein besseres Gesundheitssystem als in vielen anderen Ländern.
— Julia (@mupfelia) June 29, 2020
Aber wir befinden uns inzwischen schon einen Schritt jenseits der Grenze zur menschenwürdigen Pflege. Ganz zu schweigen von der Belastung des Pflegepersonals. Einfach weil diese Bereiche über Jahre derart mit Füßen getreten wurden.
— Julia (@mupfelia) June 29, 2020
Ich hoffe, mit diesem banalen Beispiel des tgl. Toilettengangs gezeigt zu haben, was sich z.T. in den KHs abspielt. Und wie viel von Seiten derjenigen, die es in der Hand hätten zu ändern, sprichwörtlich „verkackt“ wurde. Ende der Durchsage
— Julia (@mupfelia) June 29, 2020
Das sagen andere User:
Schlimm genug, dass die Patienten uns Pflegekräfte entlassten wollen.
Danke für deine Sicht. Aus der Sicht eines Patienten.— Eleonore 🦵🏻🦿 (@EleonoreSeidler) June 29, 2020
Danke für deinen Thread es wird viel zu wenig thematisiert was #Pflegenotstand auch für die Patienten*innen bedeutet.
— Muh Kuh (@dvnfbrlmsbngq) June 29, 2020
Liebe Julia, herzlichen Dank für deine nachfühlbare Schilderung. Ich hoffe, du bekommst von Spahn nicht nur Floskeln zu hören! Ich war auch häufiger in einer Klinik. Der Notstand ist offenbar universell. Und das ist der Skandal in diesem reichen Land!
— Helmut Hesse (@hesse_helmut) June 29, 2020
Solange man nicht selbst im KH ist und es selbst mitbekommt, ist es immer etwas schwer zu „begreifen“, was gerade total schief läuft. Danke dir für das Näherbringen. 💚
— Claudia😷bleibtzuHause (@ErlendurHai) June 29, 2020
Danke liebe @mupfelia . Genau den Eindruck habe ich auch erlebt. Nur hatte ich keine Möglichkeit aus dem Bett zu kommen. Ich kam mir teilweise wie ein Störfaktor vor, das darf so nicht sein und es muss sich etwas ändern @jensspahn .
— Saarturtelmum&DasBücheruniversum (@lariviere_ilona) June 29, 2020