Thread: Ich kann und will nicht mehr
Systemrelevante Berufe, ihr erinnert euch? Am Anfang der Pandemie sprachen alle darüber, welche Berufe wichtig sind, um unsere Gesellschaft am Laufen zu halten. Dazu zählen Mitarbeiter*innen im Einzelhandel, das Versorgungs- und Wartungspersonal kritischer Infrastruktur und natürlich nahezu alle Sozialberufe. An vorderster Front standen dabei natürlich alle Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen, dicht gefolgt von Lehrkräften und Kita-Erzieher*innen. Sie alle haben gleich mehrere Dinge gemeinsam: Sie vollbringen wichtige Arbeit am Menschen und für die Gesellschaft, sind unterbesetzt, überarbeitet, schlecht bezahlt und fühlen sich nicht erst seit der Pandemie von der Politik im Stich gelassen. Während wir über die Pflege vergleichsweise viel geschrieben haben, kam der Kita-Sektor ein bisschen zu kurz. Das ändert sich heute. Der Twitteruser @martingommel hat in dem nun folgenden Thread mit seinem sozialen Job, den er mal als seine Berufung ansah, schonungslos abgerechnet.
Vor drei Wochen habe ich meinen Kita-Job an den Nagel gehängt, um einer Depression vorzubeugen. Und so langsam bin ich fertig mit der sozialen Arbeit. 2004 absolvierte ich die Ausbildung, 2022 denke ich: Ihr könnt mich mal. [Thread]
— Martin Gommel (@martingommel) March 7, 2022
Ich habe minderjährige Geflüchtete betreut, Schulsozialarbeit gemacht, in einem Kinderheim gearbeitet, in einem Schülerhort und in einer Kita mein Bestes gegeben. Und ÜBERALL arbeitete ich mit Kolleg:innen, die sich mitten im Burnout befanden.
— Martin Gommel (@martingommel) March 7, 2022
Den Job habe ich aus Überzeugung gemacht und ich wusste, worauf ich mich einlasse. Mein Vater, der selbst beim Landesjugendamt arbeitete, sagte mir schon im Alter von 14: Der soziale Bereich ist im Arsch und die Regierung interessiert sich einen Dreck dafür.
— Martin Gommel (@martingommel) March 7, 2022
Er starb 2004 völlig überarbeitet an einem Herzinfarkt. Nicht nur, aber auch deshalb. Ich habe nicht vor, ihm darin zu folgen. Die magere Bezahlung, die prekären Arbeitsverhältnisse und die Kitaviren haben mich 2021 an den Rand des Erträglichen gebracht.
— Martin Gommel (@martingommel) March 7, 2022
Niemand, absolut NIEMAND will derzeit Erzieher*in sein. Deshalb sind wir jederzeit unterbesetzt, unterbezahlt und untergewertschätzt. Es ist nicht so toll, permanent mit Zeitarbeitskräften zu arbeiten, die den Beruf nicht gelernt haben.
— Martin Gommel (@martingommel) March 7, 2022
In meinem Fall kann die zu hohe Arbeitsbelastung gefährlich werden. Weil Depressionen. Weil dann Psychiatrie. Weil dann vielleicht Suizidalität.
Deshalb habe ich vor zwei Wochen gekündigt. Natürlich mit einem fucking schlechten Gewissen, die Kolleg:innen im Stich zu lassen.
— Martin Gommel (@martingommel) March 7, 2022
Auf gut Deutsch: Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Und jetzt werde ich alles tun, um nicht mehr zurück zu müssen.
— Martin Gommel (@martingommel) March 7, 2022
Und wer sich fragt, was mein erster Schritt ist, unabhängig von meinem Zweitjob im Sozialen Beruf zu werden:
Mit meinem Fotografie-Newsletter »Martin löst aus«: https://t.co/uIU5gPg9zi
(Alle Infos findet ihr auf der Seite)
— Martin Gommel (@martingommel) March 8, 2022
Das sagen andere User:
Ob im Gesundheitswesen, im Verkauf oder im Bildungssektor, am Ende ist es überall das gleiche Lied. Die wirklich wichtigen Berufe, die dieses Land zusammen- und am Laufen halten, werden kaputtgespart, vernachlässigt und funktionieren zum Teil nur noch, weil sich einige wenige aus ihrem Pflichtbewusstsein heraus verheizen lassen. Traurig! Wir können jeden verstehen, der dieses System nicht mehr mittragen möchte. Offensichtlich muss es erst viel schlimmer werden, bevor es besser wird. Ein paar der treffendsten Kommentare und Reaktionen haben wir hier für euch gesammelt.
Ich fühle das sehr. Bin vor vier Jahren aus der Schule freiwillig ausgeschieden, habe gedacht, dass es im Kitabereich vielleicht erträglicher ist, da ich weiterhin gerne mit Kindern arbeiten wollte. Ist es nicht. Ich bewundere deine Entscheidung, ich zaudere noch.
— Frau Kirschblüte (@misstarisato) March 8, 2022
Ich stehe auch so kurz davor, nach fast neun Jahren Erzieherin, davon zwei mit Corona als Leitung. Ich kann auch nicht mehr und lege all meine Hoffnung auf ein duales Studium ab dem WS. Brauche nur endlich positive Rückmeldung. Dann bin ich weg. Ausgelaugt und müde.
— Radkäppchen & der Volvo (@radkaeppchen) March 8, 2022
Alles Gute für dich! 🍀
Das ist wahrscheinlich die richtige Entscheidung. Ich kenne auch so viele ausgebrannte Menschen im sozialen Bereich. Das ist für mich auch der Grund gewesen, ins Amt zu wechseln. Geregelte Arbeitszeiten, gutes Gehalt, gesundheitsverträgliche— Frau Sozialarbeiterin (@FrSozialarbeit) March 8, 2022
Ich halte das ganze Konzept „ackern, schnell Kinder kriegen, Kinder in die Kita abschieben, um weiter zu ackern“ für extrem fragwürdig.
— Dreckspoet (@Zoulhh) March 8, 2022
Alles Gute für Dich🧡🍀!Musste vor zwei Jahren als angestellte Lehrerin die Notbremse ziehen u aussteigen.Bin zum zweiten Mal in eine schwere Depression geschlittert. Hab viele Jahre mit chronischer Angsterkrankung gearbeitet, in die Depression hat mich aber der Job getrieben.
— Schnauz (@Schnauzzwo) March 7, 2022
Dieses Gefühl der Hilflosigkeit, wenn ich gesehen habe, Kinder brauchen Hilfe und bekommen keine angemessene, weil nicht genug Personal, keine Therapieplätze, nicht genug Schulsozialarbeit, nicht genug Schulpsychologen. Diese Nixklusion für möglichst umsonst auf Kosten der Kinder
— Schnauz (@Schnauzzwo) March 7, 2022
Öffentliche Jugendhilfe hier, gleicher Zirkus. Die eine Hälfte hatte mal Burnout, die nächsten Hörstürze, Herzinfarkte, chron. Stresserkrankungen. „Wie kann das sein, ihr Beamten (werden nicht verbeamtet🤡) da in der Behörde!“
Kennst du sicher, ihr „singt u bastelt ja nur“ 🙄— Mosslady (@Affenzuckercafe) March 8, 2022
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Wie sich Lehrkräfte aktuell fühlen, lest ihr hier: