Phasen, in denen man antriebslos oder traurig ist, kennen wir alle. Das ist soweit nichts Ungewöhnliches. Stimmungstiefs gehören zum Leben dazu. Depressionen sind jedoch eine ernste Erkrankung, die erhebliches Leiden bei den Erkrankten verursachen. Oft ein Leben lang. Aber was genau bedeutet das eigentlich für die Betroffenen? Lange wurden Menschen mit Depressionen als Schwächlinge belächelt oder als Verrückte stigmatisiert. Es wird Zeit, dass dies der Vergangenheit angehört. Der Fotograf Martin Gommel hat über seinen Umgang mit chronischen Depressionen diesen ergreifend ehrlichen Thread verfasst.
1/ Hey. Ich möchte reden. Denn ich habe keine fucking Lust mehr, leise zu sein. Ein Thread in 18 Tweets aus der Perspektive eines Menschen mit chronischen #Depressionen.
— Martin Gommel (@martingommel) July 10, 2020
2/ Wir Depressiven tragen in uns das Vorurteil, dass wir anderen zu viel sind, dass wir anstrengend sind. Wir wissen, dass unsere Krankheit auch unser Umfeld betrifft, doch wir hören oft: Es reicht jetzt auch wieder. Reiss Dich zusammen.
— Martin Gommel (@martingommel) July 10, 2020
3/ Da wir ohnehin Probleme damit haben, unsere Bedürfnisse vor anderen zu äußern, werden wir dadurch sehr leise. Denn wir wollen alles, nur keinem zur Last fallen oder stören. Und das betrifft nicht nur unser Umfeld, sondern auch Social Media.
— Martin Gommel (@martingommel) July 10, 2020
4/ Die Gesellschaft hat in den letzten Monaten erlebt, wie es ist, sich zu isolieren und Kontakte zu meiden. Das ist für niemanden schön. Und ich sags mal so: Welcome to my world. In meinen depressiven Episoden mache ich genau das. Rückzug, Isolation, Kontaktabbruch.
— Martin Gommel (@martingommel) July 10, 2020
5/ Und das ist nicht *mein* Problem, sondern gehört zu den Symptomen meiner Krankheit. Wir werden dann so leise, dass sich manche fragen, ob wir überhaupt noch leben. Das betrifft nicht nur unser Umfeld, sondern (wer hätte es gedacht) Social Media.
— Martin Gommel (@martingommel) July 10, 2020
6/ Deshalb sprechen wir selten über unsere Krankheit. Und sprechen ist das Stichwort, denn wir erleben auch eine sprachliche Isolation. Denn es ist schwer, unseren brennenden Schmerz und unsere Angst in adäquate Worte zu fassen.
— Martin Gommel (@martingommel) July 10, 2020
7/ Im Regelfall geht das, wenn wir akut krank sind, überhaupt nicht.
Wir tragen in uns einen inneren Schmerz, über den ich an anderer Stelle nochmal sprechen möchte. So viel vorab: Ich wünsche niemandem diesen Schmerz. Zurück zur sprachlichen Isolation.
— Martin Gommel (@martingommel) July 10, 2020
8/ Diese äußert sich in unserem Nicht-Kommunizieren – auch online. Deshalb sieht die Gesellschaft äußerst selten, was uns wirklich bewegt. Wir sind still und leise. Stattdessen grübeln wir ununterbrochen darüber nach, ob es jetzt komisch war, dass wir „nein“ gesagt haben.
— Martin Gommel (@martingommel) July 10, 2020
9/ In meinem Fall wird jeden Tag ein Gefühl getriggert, an das ich mich schon so gewöhnt habe, dass ich es im Alltag kaum mehr wahrnehme: Ich habe Angst davor, von online bloßgestellt zu werden. Ich habe Angst vor einem Call-Out, vor einem Shitstorm.
— Martin Gommel (@martingommel) July 10, 2020
10/ Und ich sage Euch auch woher das kommt.
Ich war in meiner Kindheit der Schuldepp. Ja, das ist richtig. Nicht der Klassendepp, sondern der Schuldepp. Ich wurde jahrelang gemobbt, und irgendwann auch geschlagen. Von Schulkameraden.
— Martin Gommel (@martingommel) July 10, 2020
11/ Kurz gesagt: Meine Kindheit war ein einziger Shitstorm.
Dieses Trauma hat sich so stark in mir festgesetzt, dass ich das auch heute noch spüre. Und zwar genau dann, wenn ich in einem größeren Kontext etwas sagen möchte.
— Martin Gommel (@martingommel) July 10, 2020
12/ Ich habe zwar gerne eine große Klappe, aber ich habe auch Angst davor, abgelehnt zu werden.
Manchmal mache ich mir Stunden nach einem Gespräch noch Gedanken darüber, was die anderen jetzt von mir denken.
— Martin Gommel (@martingommel) July 10, 2020
13/ Deshalb bin ich oft lieber still und sage Dinge, die niemanden stören.
Mir ist auch aufgefallen, dass ich in den letzten Monaten hier auf Twitter wieder gefällig wurde und mich nicht traue, zu stören, laut zu sein, mich bemerkbar zu machen.
— Martin Gommel (@martingommel) July 10, 2020
14/ Ich werde dann zum super people-pleaser, ich passe mich an und benehme mich.
Nun habe ich mir in den letzten Wochen meine Ängste seeeehr genau angesehen. Manche konnte ich sogar lösen und es geht mir seither wesentlich besser (es ist das geilste Gefühl, ever).
— Martin Gommel (@martingommel) July 10, 2020
15/ Johannes, mein Therapeut sagt oft: „So, und zur Übung machst Du genau das, wovor Du am meisten Angst hast.“ Freiheit durch Konfrontation.
— Martin Gommel (@martingommel) July 10, 2020
16/ Und deshalb schreibe ich das hier, denn ich habe schlicht und ergreifend kein Bock mehr auf den Bias, dass Depressive andern nur zur Last fallen.
Ich habe keinen Bock mehr darauf, leise zu sein und niemanden zu stören.
— Martin Gommel (@martingommel) July 10, 2020
17/ Ich möchte laut sein, Probleme ansprechen und vor allem: Meine Krankheit zum Thema machen, gemeinsam mit anderen – ohne silver lining, ohne permanent sprachlich auf die Bremse zu stehen.
Es ist für mich an der Zeit, laut zu werden.
— Martin Gommel (@martingommel) July 10, 2020
18/ Was das genau bedeutet, weiß ich noch nicht. Aber dieser Thread dient auch der sprachlichen Ermächtigung und das tut gut, das einfach mal rauszulassen. Und ich werde heute nicht darüber nachdenken, ob ich mit diesem Thread nun angeeckt bin, oder nicht.
— Martin Gommel (@martingommel) July 10, 2020