Thread: Hätten Sie einen Moment?

Das Thema Pflegenotstand mag so manchem zu den Ohren rauskommen, aber wenn wir schweigen, ändert sich natürlich auch nichts. Erst heute konnte man in der Presse lesen, dass laut einer Umfrage viele Pflegekräfte wegen Überlastung und schlechter Bezahlung nach einer neuen Stelle suchen. Und mit „viele“ ist jede vierte Fachkraft gemeint. Schlimmer noch: Vor allem Jüngere wollen die Pflege sogar ganz verlassen. Aktuell fehlen in Deutschland über 200.000 Pflegekräfte, in zehn Jahren werden es sogar bis zu 500.000 sein. Wie die Ampelkoalition dem entgegentreten will, steht zur Stunde noch in den Sternen. Auch von unserem neuen Gesundheitsminister ist dazu bislang nur wenig zu hören. Fakt ist, dass die bisherige Flickschusterei irgendwann einen Domino-Effekt zur Folge haben wird, weil die noch verbliebenen Kolleginnen und Kollegen, die alle Ausfälle kompensieren müssen, aufgrund der Belastung früher oder später ebenfalls ausfallen oder kündigen werden. Was das schon jetzt für die noch verbliebenen Kräfte und die Patienten bedeutet, beschreibt euch nun die Twitteruserin und Pflegefachkraft @Nell781 mit dem nun folgenden Thread.

„Hätten Sie einen Moment?“ fragt mich die alte Dame, die im Pflegesessel auf Abholung durch den Fahrdienst wartet.
Ich bin schon fast bei ihr, da höre ich die Kollegin rufen.
Schnell, schwere allergische Reaktion!
Ich renne ins Zimmer, eine Frau ringt nach Luft, die Lippen blau

— Die 78. Nell🏥 (@Nell781) February 25, 2022

Ich bekomm einfach keine Nadel rein!
Ich lege der Frau eine Viggo, während sie sich schwallartig auf meine Schuhe erbricht, die Medikamente helfen schnell.
Sie stabilisiert sich.
Ich denke an die Dame die auf mich wartet.
Schuhe schnell abgewischt, weiter geht’s.

— Die 78. Nell🏥 (@Nell781) February 25, 2022

Im Zimmer nebenan pinkelt gerade ein betrunkener Patient in die Schublade des Pflegewagens.
Verdammt!
Fies grinsend hört er sich den Anpfiff an.
So voll ist er nicht. Nur fies.
Manchmal ist das so.
Hilft nix, ich werfe die Sachen weg, putzen kann ich später.

— Die 78. Nell🏥 (@Nell781) February 25, 2022

Nun aber endlich zu der Dame.
Am Empfang steht eine Frau mit Wehen.
„2 Minuten“, keucht sie.
Alles! Nur keine Geburt in diesem Chaos.
Ich pack sie in den Rollstuhl und renne in den Kreißsaal.
Geschafft!
Jetzt muss ich aber wirklich zu der Dame.

— Die 78. Nell🏥 (@Nell781) February 25, 2022

Ich laufe am Zimmer des betrunkenen Patienten vorbei.
Er versucht gerade ein Blutröhrchen anzuzünden und zu rauchen.

Zeit für den Sicherheitsdienst.
Am Empfang wird gerade eine Kollegin angebrüllt, wie lange man als Kassenpatient hier warten muss.

Ein dementer Patient ruft

— Die 78. Nell🏥 (@Nell781) February 25, 2022

ununterbrochen Hallo, Schwester, Hilfe, Hallo.
In Endlosschleife.
„Gleich kommt ein Schlaganfall im Fenster, eben kam die Anmeldung“ kannst du den übernehmen?
Klar. Aber irgendwas wollte ich doch noch.
Was war das nur? Es riecht nach verbranntem Plastik. Scheinbar

— Die 78. Nell🏥 (@Nell781) February 25, 2022

raucht er doch ein Gerinnungsröhrchen.
Monitore bimmeln ununterbrochen.
Herrgott, ich hab was vergessen!

Die Dame, die auf den Transport wartet!
Der Stuhl ist leer, sie wurde abgeholt.
Auf dem Stuhl liegt eine Tafel Schokolade.
Ich bin den Tränen nahe.
Einfach ausgebrannt.

— Die 78. Nell🏥 (@Nell781) February 25, 2022

Das sagen andere User:

Es ist einfach nur deprimierend und erschreckend, wie schlimm die Situation schon geworden ist. Unsere Hochachtung gilt allen Pflegekräften, die bislang noch nicht das Handtuch geworfen haben. Was die Leserinnen und Leser des Threads zu sagen hatten, haben wir für euch zusammengetragen.

Was für ein beschissenes System, in dem solche Geschichten zum Alltag gehören.
Deine Stärke und dein Einsatz können nur ein Vorbild für alle sein.

— Alexander Koch (@Captain_Teach17) February 25, 2022

Uff, ich kenn es zu gut. Könnte 1:1 aus unserer ZNA stammen 😥 „Halte durch“ ist glaub ich die falsche Reaktion, solche Zustände gehören nicht durchgehalten, sondern endlich abgeschafft…

— somnacine (@somnacine) February 25, 2022

Ich war vor 3 Jahren sehr oft als Besucher im Krankenhaus und exakt das war mein Eindruck von Eurer Arbeit.
Auf der Station war sogar dieser demente alte Mann, der immer „Hilfe“ und „Hallo, Hallo“ rief.

— Johann van de Bron (@Johann_v_d_Bron) February 25, 2022

Ganz ehrlich: ich habe keine Ahnung, wo ihr eure Energie hernehmt. Ich durfte selber erleben, wie aufopferungsvoll und mit viel Seele jeder einzelne betreut wird. Und wie beschrieben: es gibt nicht nur nette Patienten.

Unbezahlbar. Leider versucht es auch keiner.

Danke!

— frenocomio (@frenocomio) February 25, 2022

Ach Nell, meist sind es gerade die Zurückhaltenden, Leiseren, nett und höflich Fragenden, die zuletzt kommen, nicht wahr? Aber ich bin sicher, sie spüren auch eure innere Zuwendung💛

— Ana🕊 (@KukuleleAna) February 26, 2022

Man stelle sich mal vor mein hätte gleich zu Beginn der Pandemie etwas getan die neuen Mitarbeiter könnten bereits bereitstehen

— Lord Commander (@LordComander762) February 26, 2022

Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Um das Thema Pflege geht es auch in diesem Beitrag:

15 nachdenkliche Tweets über die untragbare Situation in der Pflege