Thread: Es ist ihr bis heute ein Rätsel, wie man ein Baby so weinen lassen kann
Kontrolle ist in unserer Gesellschaft ein extrem hohes Gut. Wir kontrollieren unseren Kalorienverbrauch, wir zählen unsere Schritte, überwachen unseren Medienkonsum, Ausgaben, Einnahmen oder unsere Arbeitszeit. Wir halten uns für mündig, aufgeklärt, eine Wissensgesellschaft. Aber wie fragil wir unter all dieser Kontrolle sind, lernen wir ziemlich schnell, sobald wir Eltern werden. Denn Kinder halten sich weder an das Zeit- noch an das Aufgabengerüst, an dem wir uns durch den Alltag hangeln. Tagsüber ist es schon anstrengend, von den schwer vorhersehbaren Anforderungen eines Neugeborenen fremdbestimmt zu werden, aber so richtig wild wird es erst, wenn zu den kräftezehrenden Tagen auch noch durchwachte Nächte kommen. Und dass solche mit der Elternschaft einhergehen, ist praktisch ein Naturgesetz.
Warum insbesondere Kleinst- und Kleinkinder nachts aufwachen, lässt sich (evolutions)biologisch sehr gut erklären, aber auch die nachvollziehbarste Logik hilft kaum, wenn man seit Wochen oder Monaten auf dem Zahnfleisch geht. Zudem verunsichern die immer wieder wechselnden pädagogischen und gesellschaftlichen Trends, wie Eltern am besten mit nachtaktiven Kindern umzugehen haben. Während in den letzten Jahren das gemeinsame Familienbett mehr an Bedeutung gewonnen hat, galten in den vergangenen Jahrzehnten oft andere Schlafsituationen als normal. So wie bei der Tante von @MrsMarryPoppins. Ein Thread, der beklommen macht und stellenweise schwer zu ertragen ist.
Tante (Ü70) erzählte, dass sie als Baby wohl viel geweint hätte, wenn sie abends hingelegt wurde. Ihr Vater hatte dann das Zimmer abgesperrt, den Schlüssel unters Kopfkissen gelegt und darauf geschlafen. Ihrer Mama hat es das Herz gebrochen, konnte sich aber nicht durchsetzen
1/— Mrs_Mary (@MrsMarryPoppins) August 22, 2021
Sie selbst kennt die Geschichte aus Erzählungen. Irgendwann war sie dann auch ruhig, aber „weil sie aus Erschöpfung vom Weinen“ eingeschlafen sei.
Es ist ihr bis heute ein Rätsel,wie man ein Baby so weinen lassen kann.Ich möchte bitte das kleine Mädchen vor 70 Jahren umarmen.
— Mrs_Mary (@MrsMarryPoppins) August 22, 2021
Das sagen andere User*innen:
Puh. Die Vorstellung eines nachts schreienden Babys und einer verzweifelten Mutter geht nicht nur uns durch Mark und Bein, sondern berührt auch sehr viele Twitteruser*innen, denn leider ist die Praxis des „schreien Lassens“ noch längst nicht überholt. Das sogenannte „Ferbern“, also das „Schlaftraining“ mit möglichst wenig elterlicher Begleitung, wird nach wie vor von vielen Ratgebern propagiert. Zum einen geht es dabei um die Annahme, dass Kinder auf diese Art schneller lernen, sich selbst zu beruhigen. Zum anderen geistert auch heute noch die Argumentation, Erwachsene sollten sich von Kindern kein Verhalten aufzwingen lassen, durch die Elternschaft. Die wichtigsten Kommentare möchten wir euch hier vorstellen:
Ich bin 28 und meine Mutter erzählt immer noch stolz, wie sie mich damals wochenlang die ganze Nacht hatte schreien lassen müssen, nachdem meine Oma zu Besuch war, sie mich immer in den Schlaf getragen und gekuschelt hat, weil ich „dachte das wäre jetzt immer so“.
— Anka Phora (@anthypophora) August 23, 2021
Wenn man nur sagen könnte, Gott sei Dank sind diese Zeiten vorbei…
Nachbarn einer Freundin haben es mit beiden Kindern so gemacht, dass sie nachts nicht hingehen, Kind soll durchschlafen „die ersten Wochen weinen sie, aber das geht nicht lange, dann ist Ruhe“ 😔 mein Herz!— Isa hat nen neuen Nachnamen ❤️👨👩👧🚒 (@Isa35178475) August 23, 2021
Meine Frau wurde als Baby zum weinen auf den Balkon gestellt, war noch kein Fütterzeit. Das tut mir immer wieder sehr leid für sie. Das ist grausam
— 🌈Justus Jonas’ Ex- Freundin🌈 (@ottersteinchen) August 22, 2021
Meine Mutter wollte mich auch nicht schreien hören. Ich hab dann einfach ein Schlafmittel bekommen. Wenn ich heute so drüber nachdenke, ist es vielleicht gar nicht so wenig Glück gewesen, dass das nicht böse geendet hat.
— Ellionore 🤱 (@DieEllionore) August 22, 2021
Nicht vergessen: Bei der Diskussion um Kinderschlaf geht es auch immer um Macht und Ohnmacht:
Meiner Tante ist das bei meinem Cousin Jahrgang 1968 auch so ergangen.Mein Onkel schloss die Tür ab und sie kam nicht zu ihrem Kind.
Warum sie danach immer noch bei ihm bleiben konnte werde ich nie verstehen! Ich würde einen Mann, der mich von meinem weinenden Kind trennt hassen.— JacyJu🔴🔴🔴 (@JacyLu76) August 23, 2021
Meine Mutter hat auch so gehandelt, getreu nach Johanna Haarers Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“. Es war mein Vater, der es nicht ertragen konnte, uns schreien zu lassen. „Er hat euch verweichlicht“, sagte unsere Mutter immer.
— D. (@dalaruan) August 23, 2021
Nicht nur Kinder wurden und werden auf diese Art nachhaltig traumatisiert:
Bei K1 schwärmte der Mann davon, wie toll er das Konzept Familienbett findet. Sein Vater rümpft die Nase, murmelt was von Kinder müssten früh ins eigene Bett, seine Mutter kämpft derweil mit den Tränen und verlässt den Raum.
— NettisNich (@wanen82) August 23, 2021
Mir wurde im Urlaub bei der Familie auch oft vom „schreien lassen“ erzählt. Und zwar nicht von meiner Oma, sondern von gleich altrigen die das mit ihren Kindern gemacht haben. Nicht nur damit sie schlafen sondern auch weil sie „frust aushalten“ müssen bzw. Dadurch „lernen“ 😭
— Die kleine Ärztin (@doktor_tante) August 23, 2021
Pädagogisch und ideologisch hat sich nicht in allen Köpfen viel getan:
Bei mir war das auch so- 60er Jahre. Stichwort:Stillzeiten. Ich bekam vom Schreien einen Nabelbruch. Und wurde schon mit 5 zur „Kindererholung“ geschickt, weil ich so dünn war. Alles noch Auswirkungen der „Lehren“ aus dem Buch „Die deutsche Mutter und ihr 1. Kind“.Nazipädagogik.
— #Frau_Privatsekretär geimpft unterwegs 🤫👓🧩🧨 (@FrauPrivat) August 23, 2021
Mir hat im Krankenhaus noch 2013 eine Schwester auf der Intensivstation geraten, mein Kind nicht immer aus dem Bett zu nehmen, wenn es schreit. Sonst würde ich meinen Haushalt nicht schaffen.
— Ullli (@UllliPeters) August 23, 2021
Als ich 2014 (!) mit meiner Tochter schwanger war, wurde im Geburtsvorbereitungskurs empfohlen, die Kinder alle 4 Stunden zu stillen und ansonsten schreien zu lassen. Weil: „Sie dürfen sich von dem Baby nicht auf der Nase herumtanzen lassen“.
— EnragedRageDrake (@EnragedDrake) August 23, 2021
Fazit:
Ausreichend Schlaf ist ohne Zweifel für uns alle wichtig. Schlafmangel raubt uns Kraft, macht uns launisch und auf Dauer sogar krank. Verzweifelten Eltern kann man sicherlich zeitgemäßen pädagogischen Rat anbieten, vielleicht wäre aber noch mehr getan mit gesellschaftlichem Verständnis und praktischer Unterstützung. Die letzten beiden Punkte sind übrigens genau das, was man schlaflosen Kindern wünscht: Verständnis und Unterstützung statt Einsamkeit und Tränen.
Apropos: Wenn Eltern schon nicht schlafen, haben sie wenigstens Zeit, lustige Tweets zu schreiben: