Thread: Das ist ein Hilferuf

Das Abfertigungspersonal auf deutschen Flughäfen bekommt endlich (bis zu) 18 % mehr Lohn. Ein toller Erfolg für die Beschäftigten schon nach kurzen Verhandlungen. Die langen Schlangen und Wartezeiten an den Flughäfen sowie die ständigen Schlagzeilen darüber waren wohl nicht mehr hinnehmbar. Eine schnelle Lösung musste her. Ganz anders sieht das leider im Gesundheitswesen aus, denn der Streik an den Unikliniken in NRW dauert seit elf Wochen an und droht sich sogar auszuweiten. Statt einer Übereinkunft gibt es dort bis dato nur zwei (gescheiterte) Unterlassungsklagen zu vermelden. Eine Einigung ist nicht in Sicht. Dabei geht es den Streikenden primär gar nicht um mehr Lohn, sondern um den Zustand des Gesundheitssystems im Allgemeinen und die daraus resultierenden Auswirkungen auf die Qualität der Patientenversorgung. Aber was genau stimmt denn eigentlich nicht mit dem System? Diese Frage versucht nun der Twitteruser und Mediziner @navid_zd für uns in dem folgenden Thread ausführlich zu beantworten.

Das ist ein Hilferuf. Ich ertrage nicht mehr, wie sehr Menschlichkeit in der Medizin durch Ökonomisierung verdrängt wurde und wird. Wollen wir Kranke behandeln oder wollen wir mit Kranken Geld verdienen? Ein langer Thread: ich freue mich auf eure Gedanken & Ideen. #medizinbrennt

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

In der Medizin geht es um unsere Gesundheit, manchmal um unsere Leben. Wir haben nichts wertvolleres, nichts weniger austauschbares. Was sagt es denn über die Grundwerte unserer Gesellschaft aus, wenn wir nicht einmal diesen Bereich von Ökonomisierung ausnehmen!?

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Ökonomisierung bzw. der dahintersteckende Kapitalismus bringt ein ganz eigenes Evolutionsprinzip mit sich. Alles wird dem Selektionsdruck der Wirtschaftlichkeit unterworfen, alles muss sich an der Fähigkeit messen, Kapital zu schonen und bestenfalls vermehren zu können.

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Besserer Personalschlüssel? Sinnvoll, aber zu teuer. Personal für Lehre und eigene Ausbildung freistellen? Sinnvoll, aber zu teuer. Vollwertigere Kost in Krankenhäusern? Sinnvoll, aber zu teuer. Weniger Hüft-TEPs? Sinnvoll, aber zu teuer. Gute Idee? Sinnvoll, aber zu teuer.

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Stationsassistenten zur Dokumentation einstellen? Sinnvoll, aber zu teuer. Oma Erna doch noch ein wenig länger dabehalten, weil sie eigentlich noch nicht fit ist? Sinnvoll, aber zu teuer. Eine halbe Stunde mit dem deprimierten Patienten in Zimmer drei reden? RECHNET!SICH! NICHT!

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Das zu realisieren und ständig vor Augen geführt zu bekommen, ist unglaublich bitter. Es geht gar nicht darum, bestmögliche Versorgung von Menschen zu realisieren. Es geht um Kohle. Alles muss sich daran messen. Mensch oder Kapital? HUMANismus oder KAPITALismus?

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Wenn Kliniken Gewinne erwirtschaften und maximieren sollen, wird der Kranke zur Ware.

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Vom Zweck an sich, zum Mittel zum Zweck der Kapitalgenerierung.
Das geht so nicht. Das darf nicht sein. Das tut weh. Das steht in drastischem Widerspruch zu unserem Berufsethos und dem, was ein kranker Mensch verdient und braucht.

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Gutes Personal mit dem Herz am rechten Fleck, dass der Würde und dem Selbstzweck der Patienten trotz aller Widrigkeiten gerecht werden möchte, muss stetig gegen ein System ankämpfen, dass längst alle Stellschrauben auf Kapital, nicht auf Menschlichkeit gestellt hat.

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Sich aufopferndes Personal hält dadurch einen Mindeststandard aufrecht, der manche zur Illusion verleitet, dass es so schlimm ja nun auch wieder nicht sein könne. Gewaltiger Trugschluss!

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Wieso läuft es denn (noch) auf diesem niedrigen Niveau? Weil das integre Personal mit seiner psychischen und physischen Gesundheit drastisch bezahlt. Das Personal ist die Knautschzone zwischen Kapitalismus und Humanismus im Gesundheitswesen. Und es wird gnadenlos zerquetscht.

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Das ständige Ankämpfen gegen wirtschaftlichen Selektionsdruck treibt einen riesigen Keil zwischen Selbstanspruch medizinischen Personals und dem, was tatsächlich noch zu leisten ist. Was macht das? Burnout! Und schlechte Krankenversorgung natürlich. Letzteres hatten wir ja schon.

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Was wir heute schon an Burnout im Gesundheitswesen sehen, ist nur der Anfang.
Medizinisches Personal hat häufig ohnehin schon sehr hohe Ideale: manche würden wohl auch in einem perfekten System an ihren eigenen Ansprüchen scheitern.
Doch Burnout wird weiter zur Regel werden.

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Wie soll es auch anders sein bei einer Tätigkeit, die eigentlich zutiefst humanistisch ist und sich als Anwalt der Menschen versteht? Wie soll es funktionieren, dem nachzugehen und dabei nicht frustriert, verzweifelt und leer zu werden, wenn GELD im Mittelpunkt steht?

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Diese kognitive Dissonanz macht kaputt. Wie soll man nicht ausbrennen / verbittern, wenn man den ganzen Tag nur Bruchstücke der eigenen Ideale bei der Versorgung Kranker verwirklichen kann? Ich frage mich mehr als einmal am Tag, wie meine Zukunft in diesem System aussehen kann.

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Jeder Fall vom Burnout ist ein Symptom eines krankem Systems. Wann verstehen es endlich alle? Das System ist krank!!! Es wird zweckentfremdet für etwas, das niemand der dort Tätigen leisten kann und leisten möchte. Es funktioniert so nicht. Medizin ist kein Wirtschaftszweig.

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Nun kann man ja auch so argumentieren, dass sich Wirtschaftlichkeit und gute Medizin ja gut miteinander kombinieren lassen. Dass es sich ja lohnt, in Personal etc. zu investieren, da man dann hinten raus weniger Schäden und Folgekosten bezahlen muss. Dass es sich ja rechnet.

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Ich finde das einfach nur zynisch. Muss denn erst die Wirtschaftlichkeit eindeutig gebotener Schritte dargelegt werden und durch Bürokraten-Hirne sickern, bevor wir Humanismus am Krankenbett praktizieren dürfen? Mensch oder Kapital? Hm?

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Menschlichkeit in der Medizin darf nicht den Stellenwert von etwas haben, was sich irgendwie mit Wirtschaftlichkeit vereinbaren lässt. MEDIZIN IST PRIMÄR MENSCHLICHKEIT!

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Ein grundlegendes Gebot, Gelder nicht zu verschwenden, ergibt sich freilich aus dem solidarischen Aspekt der Krankenversicherung. Alles darüber hinausgehende, was auf Kosten von Kranken Gewinne erwirtschaftet, empfinde ich als Beleidigung von menschlicher Würde & Intelligenz.

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Man sieht schon heute, wie das Gesundheitswesen unter dem Ökonomisierungsdruck langsam zersetzt wird und wie tolle Menschen ihre Gesundheit und Motivation für die Arbeit verlieren. Wie soll das werden, wenn der demographische Wandel weiter voranschreitet…?

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Krankenhäuser sollen Kranke heilen, kein Geld erwirtschaften. Menschen wollen im Krankenhaus arbeiten, weil sie Kranke heilen wollen, nicht weil sie Geld erwirtschaften möchten. Wenn wir das System nicht zurück auf diese Spur bringen, wird es früher oder später kollabieren.

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Wenn unser höchstes Ziel wirklich ist, die Patientenversorgung zu optimieren, dann sollten wir uns unerschrocken dem Gesamtsystem annehmen und nicht vor Streiks, Demonstrationen und Arbeit mit der Presse zurückschrecken. Ich glaube, anders geht es nicht.

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Wie arm sind wir, wenn wir mit Kranken Geld verdienen?

— Navid Azad (@navid_zd) July 5, 2022

Das sagen andere User:

Einiges wird euch bekannt vorgekommen sein, weil wir bereits darüber berichtet haben, anderes vielleicht nicht. Entscheidend ist aber, dass es sich hier um einen wichtigen Hilferuf handelt, den wir euch bitten, auf euren Kanälen zu teilen. Was die anderen Leserinnen und Leser dazu zu sagen hatten, wollen wir euch natürlich nicht vorenthalten. Ein paar der treffendsten Kommentare und Reaktionen haben wir hier für euch gesammelt:

Dem gibt es leider nicht viel hinzuzufügen, außer, dass es niemanden zu interessieren scheint. Nichtmal ein Streik #NotrufNRW .
Muss erst mit Anlauf komplett gegen die Wand gefahren werden.

— Resilience789 (@resilience789) July 5, 2022

Privatisierung ist aber nur Teil des Problems. Viel von dem was du beschreibst ist schlicht durch das ausufernd schlechte Verhältnis Patient – Ressource (Personal) bedingt. Das hat nicht ausschließlich was mit Privatisierung zu tun.
Aber Stimme zu: mit Patienten keine Dividenden!

— Narkosepadawan (@narkosepadawan) July 5, 2022

Wenn man bedenkt, dass das System aus Geldern einer sozialen Solidarversicherung finanziert wird, ist es doch grob gesagt so, dass Finanzinvestoren tief in unsere Sozialkassen greifen und sowohl uns als Patienten als auch dem medizinischen Personal das Geld wegnehmen.

— Top-Ey😷 (@Ey75518304) July 6, 2022

Gewinne für Investoren ist was anderes als wenn die tatsächlich in der Medizin Arbeitenden gut bezahlt werden. Genau das beißt sich ja.

— Pacs (@Pacs_de) July 5, 2022

Sie sprechen von einem System, dass ausbeutet. Letztendlich sind es die Menschen, die dieses System benutzen, um sich zu bereichern. Es sind Menschen, die andere Menschen ausnutzen und Tod und Leiden in Kauf nehmen. Sagen wir, wie es ist!

— Marika (@na_denn_nicht) July 5, 2022

Krankenhäuser, Pflegeheime, Kindergärten, Studentenwohnheime, Universitäten, nahezu unser ganze Leben ist kommodifiziert und es dient nicht dem Allgemeinwohl, sondern dem Gewinn einzelner. Die Menschen werden damit immer mehr unter Druck gesetzt.

— Top-Ey😷 (@Ey75518304) July 6, 2022

Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Hier gibt es mehr zu dem Thema:

Thread: Ich habe einer Patientin etwas zu essen organisiert