Thread: Armutsbetroffen in der Inflation
Es ist kein Geheimnis, dass immer mehr Menschen auf die Tafeln angewiesen sind. Infolge des Ukraine-Krieges, der Inflation und der gestiegenen Energiepreise, hat sich die Zahl der Hilfesuchenden in den letzten zwei Jahren auf deutlich über 2 Millionen Nutzer*innen erhöht. Derzeit gibt es in Deutschland circa 960 Tafeln mit 60.000 Helfer*innen. Der Großteil von ihnen ist ehrenamtlich tätig. Rund ein Viertel davon sind selbst Kunden der Tafeln. Das Problem hierbei ist jedoch, dass viele Einrichtungen längst einen Aufnahmestopp verhängt haben. Nicht nur, weil sie keine Kapazitäten mehr haben, sondern auch, weil die Spenden zurückgegangen sind. Absurderweise landen allein in Deutschland jährlich etwa 18 Millionen Tonnen essbare Lebensmittel unnötigerweise im Müll.
Ja, der Mindestlohn ist gerade auf 12 Euro angehoben worden und die Sozialleistungen sollen ab Januar um 53 Euro auf 502 Euro erhöht werden. Nicht zu vergessen die „üppige“ Anpassung des Kindergeldes um 18 Euro und die Einmalzahlungen für Student*innen und Rentner*innen. Entlastungspaket sei Dank! *Ironie off* Doch angesichts der Inflation und der Kostenexplosion der Energiepreise ist das längst nicht genug. Für arme Haushalte ist die tatsächliche Inflation nämlich noch um ein Vielfaches höher, weil sie ihr verfügbares Einkommen fast vollständig für Lebenshaltungskosten ausgeben müssen. Wenn man also liest, dass die allgemeine Inflationsrate etwa zehn Prozent beträgt, kann das für Armutsbetroffene gut und gerne dreißig Prozent bedeuten.
Unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen kämpfen Betroffene schon seit einer ganzen Weile nicht nur für ihre Sichtbarkeit, sondern auch gegen Beschämungen und stellen offen Forderungen an die Politik. Sie berichten von Schlaflosigkeit, Stress und Ängsten, weil sie nicht mehr wissen, wie sie ihre Lebensmitteleinkäufe bezahlen und über den Winter kommen sollen. Von der nächsten Strom- oder Gasrechnung ganz zu schweigen. Es schreiben aber nicht nur Betroffene aus Deutschland. In Österreich ist die Situation ähnlich angespannt. Eine von ihnen ist die Twitteruserin @danibrodesser, die uns mit dem nun folgenden Thread noch einmal noch einmal deutlich machen möchte, mit welchen Problemen sie und ihre Familie konfrontiert wird.
Nochmal, weils viele nicht verstehen (wollen):
wenn dir pro Monat 200 Euro für Einkauf bleiben, für die ganze Familie, dann ist das die Höchstgrenze. Dann kaufst du das Billigste vom billigen. Natürlich nicht immer gesund. Aber der Spielraum um dich zu entscheiden fehlt.
1/14— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
Da können dir noch drölfzig Twitterant*innen erklären du musst halt umschichten – sie vergessen aber zu erwähnen WAS! Weniger Miete zahlen? Strom weglassen? Weil lustigerweise haben Armutsbetroffene keine teuren Verträge die sie eben mal stornieren könnten.
2/14— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
Weil das bisher auch nie drin war!
Also hast du mit den 200 Euro bis vor einem Jahr deine Familie halbwegs durchs Monat gebracht. Mehr mit Billignudeln und Toastbrot, aber du hast ihnen täglich gekocht und Jause mitgegeben.
3/14— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
Jetzt sind exakt die günstigsten Lebensmittel, jene, von denen wir immer abhängig waren, um über 33% gestiegen, während die #Inflation im Schnitt 10% beträgt.
Um deine Familie ernähren zu können bräuchtest du jetzt mindestens 266 Euro. Die du nicht hast. Weil ja auch Strom
4/14— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
teurer geworden ist und du also von dem Geld für Lebensmittel umschichten musstest zu den Fixkosten. Im Schnitt um die 100 Euro. Bedeutet – du hast nun statt 266, die du bräuchtest um täglich deine Familie ernähren zu können nur noch 100 Euro pro Monat für Einkauf.
5/14— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
Ja, gibt die Einmalzahlungen, die auch sehr hilfreich sind. Die dir momentan helfen aber bei weitem nicht die #Teuerungen abfedern. Schon gar nicht auf längere Sicht. Du hast also keine Perspektiven wie es in fünf, sechs, zehn Monaten weitergehen soll.
6/14— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
Was dich innerlich auffrisst. Aber schreibst du das öffentlich kannst dir sicher sein Dutzende Erklärungen zu bekommen wie du noch billiger kochen kannst. Weil du ja sicher bisher nie darauf geachtet hast🤡. Und dir wird erklärt du sollst halt dein IPhone verkaufen weil
7/14— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
wer arm ist braucht sowas nicht☝️. Lustig dabei auch immer wie automatisch davon ausgegangen wird IPhone muss neu sein und mit teurem Vertrag😂. Bei manchen scheint eine Welt der gebrauchten und geschenkten Dinge nicht zu existieren.
8/14— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
Also redest du öffentlich nicht darüber, weil du neben dem Existenkampf keine Kraft mehr hast dich mit den ständigen Vorurteilen und Stigmatisierungen auseinanderzusetzen. Und weil du in Ö 🇦🇹 bisher nur wenige gesehen oder gehört/gelesen hast, denen es
9/14— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
ähnlich ginge. Anscheinend kommen alle doch irgendwie über die Runden nur du schaffst es nicht. Auch deshalb bleibst du leise. Unauffällig. Und zerbrichst fast daran. Was du nicht weißt ist dass ein Großteil der Betroffenen mit den gleichen Gedanken kämpft
10/14— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
und aus den gleichen Gründen leise bleibt – weil niemand sonst darüber spricht! Es ist ein Teufelskreis den wir dank der jahrelangen Herabwürdigungen erleben. Und wegen dem aktuell #Armut nicht sichtbar ist.
11/14— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
Obwohl inzwischen weit mehr als 1,5 Millionen Menschen kämpfen. Obwohl inzwischen die Zahl der armutsbetroffenen Kinder weit höher ist als vor 1 Jahr. Aber wir reden nicht darüber. Wir schweigen. Aus Selbstschutz.
12/14— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
Ich hasse ehrlich gesagt alles daran dass #Beschämung durch PolitikerInnen, Medien und durch uninformiertes Umfeld so viel Macht hat! Viel zu viel Macht über uns! Und wir klein und leise bleiben!
13/14— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
Im Betroffenen helfen zu können gibt es übrigens den Solidaritätsfonds der @comun_oe und wir brauchen dort jede Spende🙏🙏 denn die Anfragen werden nicht weniger. Hier…https://t.co/yr2ebdws2C
— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
oder über die Sammlung die ich gestartet habe, hier…
14/14https://t.co/PW0ERxqUtL— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
Nachtrag: ja, ich bin laut. Weils bei mir irgendwann den Punkt gab entweder komplett resignieren und aufgeben oder alles raus schreien. Wollte mich mit diesem „schaff ja nur ich nicht“ nicht mehr abfinden. /x
— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
Inzwischen lesen mich doch ein paar Leute hier und mein Leben hat sich verändert. ABER (ja das berühmte aber gibts auch bei mir): jeder meiner Threads reißt Wunden auf. Manchmal ist mir das vor dem Schreiben bewusst, manchmal trifft es mich erst wenn der Thread fertig ist.
/x— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
So auch bei diesem. Weil grad die Erinnerungen hochkommen. An den Moment als ich mein Hobby, das einzige, das mich halbwegs aufrecht gehalten hat, aufgeben musste. Weil ich das Equipment verkauft hab um den Strom zu zahlen. Weil in jenem Monat zu viele Ausgaben waren
/x— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
die nicht eingeplant waren. Oder an den Moment als mich die Lehrerin anrief um mir mitzuteilen ich müsste dem Kind eine hochwertigere Jause als belegtes Toastbrot mitgeben! Und ich keine Ahnung hatte wie das Geld auftreiben um Vollkornbrötchen zu besorgen.
/x— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
Und mir ein Stein vom Herzen gefallen ist weil es im örtlichen Supermarkt am Abend -50% auf genau so ein Brötchen gab.
Oder die Erinnerung daran als ich in die Stadt musste zu einem Termin, mit seit Tagen das Geld für die Busfahrt zur Seite gelegt hatte. Um dann erst zu
/x— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
merken dass die Preise erhöht wurden und mir 40 Cent fehlten um wieder nach Hause zu fahren.
Für viele mag das ein „naja, auch da findet man eine Lösung wenn man will“ sein. Aber wenn du täglich mit solchen Situationen konfrontiert bist,
x/— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
wenn dein Alltag nur noch aus solchen Momenten besteht dann hast du keine Verschnaufpause mehr. Dann gibts keine Erholung, kein runterkommen. Und dann hast du auch nicht die Kraft um zb mit der Lehrerin über deine Situation zu diskutieren.
/x— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
Dinge, die ich heute völlig selbstverständlich anspreche waren noch vor kurzem unmöglich. Auch das macht Armut. Vor allem aber die herrschenden Vorurteile.
/x— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) September 30, 2022
Das sagen andere User:
Es ist einfach nur beschämend! Könntet ihr eine vierköpfige Familie mit 200 Euro ernähren? Wenn ihr auch armutsbetroffen seid, dann hinterlasst uns doch einen Kommentar, wie ihr mit der aktuellen Situation umgeht. Wer nicht betroffen ist, klemmt sich am besten jedweden hämischen Kommentar oder ungebetenen Ratschlag und hört den Betroffenen lieber einfach zu. Wir haben ein paar der treffendsten Reaktionen und Antworten der Leserinnen und Leser hier für euch gesammelt:
Genau das. Wir haben definitiv Glück und müssen nicht drauf achten, besonders günstig zu kaufen, aber trotzdem ist das jedes mal wieder schockierend, wenn man sieht, dass wir (4 Köpfig) für einen Wocheneinkauf mit kompletten Gerichten, Getränken und snacks 200€ zahlen
— x.LHrtgs.x (@xlhrtgsx) October 1, 2022
200€ ist eher das was man für eine EINZIGE Person pro Monat ausgeben muss,selbst wenn man beim Hofer kauft,und ohne großen Luxus.Vor allem auch Gemüse und Früchte snd recht teuer
Allein die Vorstellung mit 1/4 davon auskommen zu müssen,treibt mir die Schweißperlen auf die Stirn
— re-curse (@inf_recursion) September 30, 2022
Mittlerweile muss man schon von Boshaftigkeit reden, dass von manchen nicht gesehen wird, dass es bei armen Menschen KEINE Frage der Wahlmöglichkeit gibt. Ganz abgesehen von dem permanenten Streß, Druck und Angst, das so ein Leben meistens bedeutet, das ist sowieso permanent.
— nanokey (@nanoDdorf) September 30, 2022
Als eine Mitschülerin meinte: ich versteh nicht wie irgendwer die grausigen abgepackten Semmeln bei Aldi kaufen kann..
Mhm.. vielleicht ist es ja eine Notwendigkeit 🙃
— barbara kuch (@kuchiundco) September 30, 2022
Die halten locker 5 Jahre. Mein Vater benutzt noch sein 6er (8Jahre alt bei 2x Akkuwechsel). Wenn man den Restwert beachtet zahlt man effektiv nicht mehr als 50cent/Tag wenn man es länger nutzt. Viel günstiger ist es bei anderen Marken definitiv nicht
— professional groundhopper (@PepSunnyPepovic) September 30, 2022
bin selbst nicht armutsgefährdet, aber viele meiner Klient:innen sind arm.
Und haben auch deshalb höhere Kosten, weil sie sich vieles, das sparen hilft, nicht leisten können: Größere Mengen kaufen um Sonderangebote/Mengenrabatt zu nutzen (verfügbares Budget, Tiefkühltruhe…).— Martin Kutej (@MartinKutej) October 1, 2022
Es verschiebt die Verantwortung immer mehr vom Staat und der Politik auf eine viel kleinere Gruppe von Bürgern und es hat einfach etwas von Almosen verteilen. Nicht selten läuft es entlang sehr lokaler oder religiöser Vereine und das ist alles andere als ideal.
— Skippy the Magnificent (@Skippy_Elder) September 30, 2022
Danke, dass du laut und stark bist. Ich weiß nicht, wie man mit 200 Euro eine Familie ernähren kann. Ich gebe mehr als das doppelte aus und nehme nur noch Sondernagebote, Rabatte, günstigste Produkte. 200 Euro reichen nicht, das ist verhungern!!!
— MamaZissi-PatchworkFamily (@MamaZissi) October 1, 2022
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Da wir gerade beim Thema sind, schaut doch hier noch rein: