Seit letzter Woche trendet auf Twitter der Hashtag #IchbinArmutsbetroffen. Vermutlich ist er schon dem ein oder anderen begegnet. In den dazugehörigen Tweets berichten User*innen von ihren Erfahrungen und ihrem Alltag mit Armut. Dabei geht es nicht nur um die Herausforderungen und den Druck, den die Betroffenen empfinden, sondern auch darum, wie sie in die Armutsspirale geraten sind und mit dem gesellschaftliche Stigma umgehen. Die Beispiele zeigen, mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen haben und dass die Problematik nicht nur auf Deutschland beschränkt ist. Die Twitteruserin @danibrodesser aus Österreich berichtet im nun folgenden Thread, wie es ihr und ihrer Familie ergangen ist.
Wir waren eine Durchschnittsfamilie. Essen gehen, Ausflüge, Urlaub, Veranstaltungen besuchen, Kaputtes ersetzen – das war normal. Bis 2008 die Jüngste mit schwerer Fehlbildung zur Welt kam. Jahrelang kein durchgängiger Kiga- und danach Schulbesuch möglich.
1/11— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) May 15, 2022
Es dauerte fast 8 Jahre bis eine ganze Schulwoche möglich war. Hieß für mich – keine Vereinbarkeit. Maximal ein paar Stunden arbeiten. Ab 2012 kam das Burnout vom Mann dazu. Er hatte bis dahin versucht zu kompensieren was bei mir an Einkommen ausgefallen war. Vollzeitjob
2/11— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) May 15, 2022
plus Selbstständigkeit. Das war zuviel. Krankschreibung? Laut Arzt gabs Burnout nur bei Managern. Er solle sich nicht so anstellen. Der Job war dennoch weg. Also was neues gesucht um keinesfalls arbeitslos zu sein. Freier Dienstnehmer. Und somit der Beginn der
3/11— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) May 15, 2022
der Armutsspirale. Kein Anspruch auf irgendwas weil offiziell selbstständig. War es ein Fehler diesen Job anzunehmen? Ja. Hatten wir das damals gewusst? Nein. Also: für viele ist unsere Armut selbst verschuldet weil wir uns auf unsichere, prekäre Jobs eingelassen haben.
4/11— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) May 15, 2022
Fakt ist aber dass genau diese unsichern Jobs viele machen um eben auf keinen Fall beim AMS zu landen. Aus Scham.
Wir hatten Zeiten mit weniger als 1000 Euro Einkommen für 6 Personen. Keine Aufstockung wegen der Scheinselbständigkeit. Kündigen? Dann ist man 1 Monat
5/11— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) May 15, 2022
gesperrt. Wovon leben? Wovon Miete zahlen, einkaufen? Darauf gabs keine Antworten. Hätte es vielleicht Möglichkeiten gegeben? Mit Sicherheit. Nur fehlte es irgendwann sowohl an den Kontakten, sich genau zu informieren als auch an Kraft.
6/11— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) May 15, 2022
Ja, man könnte wirklich sagen wir sind selbst verschuldet in Armut geraten. Man könnte aber auch verstehen lernen dass es so etwas nicht geben dürfte. Hat man genug Ressourcen gerät man trotz Erkrankungen nicht in Armut. Uns haben die gefehlt. Das sollte in einem der
7/11— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) May 15, 2022
reichsten Länder nicht passieren. Jahrelang war jedes Monat ein reiner Kampf. Die Tage bestanden aus Existenzängsten. Am meisten weh getan hat den Kindern immer sagen zu müssen dass sie nicht mit anderen Unternehmungen machen können. Weil einfach das Geld dafür fehlte.
8/11— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) May 15, 2022
Irgendwann haben die Kinder aufgehört Wünsche zu formulieren. Und das hängt mir bis heute nach. Das schmerzt. Aber: in den Augen der meisten sind wir doch alle nur selbst schuld. Sollen unsere Hintern hochbekommen, sollen weniger Ausreden suchen, und bemühen.
9/11— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) May 15, 2022
Es gab keinen fucking Tag an dem ich mir nicht selbst Vorwürfe gemacht hatte. Keinen einzigen. Nicht weil ich selbst davon überzeugt war zu wenig zu tun im der Armut zu entkommen, sondern weil eure Beschämungen erreichen dass man es irgendwann selbst glaubt. Danke nochmal!
10/11— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) May 15, 2022
Die Ursachen von Armut zu individualisieren ist genauso sinnvoll wie Sandkörner zu zählen. Armut ist so vielfältig und unterschiedlich wie die Menschheit selbst und kein Einzelschicksal sondern strukturell. Also hört mit dieser Debatte auf. #IchBinArmutsbetroffen
11/11— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) May 15, 2022
Das sagen andere User:
Es ist traurig und erschreckend, wie schnell man in dieser Gesellschaft abgehängt wird und wie schwer – ja beinahe unmöglich – der Weg aus der Armutsspirale dann heraus ist. Mit Faulheit hat das nichts zu tun. Was die Leserinnen und Leser dieses Threads zu sagen hatten, das erfahrt ihr jetzt. Wir haben ein paar der treffendsten Kommentare und Reaktionen gesammelt.
Ebenfalls nicht für allein Erziehende und auch nicht für Menschen, die sich nicht ins System einpassen wollen oder können – aus welchen Gründen auch immer.
— Katharina Rosch (@KatKatNeugetier) May 15, 2022
Mich störte, dass man dadurch in so eine Ecke gestellt wurde und das meine Eltern dadurch in so ein schlechtes Licht gerückt wurden. Eben der Junge ohne Markenschuhe, Markenhosen und Geschenke bekam der auch nicht. Schwer zu beschreiben, wie ich das meine.
— Schupunkt (@Schupunkt) May 15, 2022
Sehr bewegend das zu lesen! Man kann schnell selbst in eine solche Situation geraten. Mit Hintern hoch kriegen hat das rein gar nichts zu tun. Ich wünsche weiterhin viel Kraft.
— Zaubergarten (@aus_ton) May 15, 2022
Oh ja! Ob’s nicht besser wäre weil dann könnt ich wieder arbeiten!
— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) May 15, 2022
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Passend dazu hätten wir noch das: