Thread: Alltag eines Intensivmediziners
Bezahlte Arbeit ist das Fundament unserer Gesellschaftsordnung. Um unseren Lebensunterhalt zu bestreiten, müssen wir – sofern wir gesundheitlich dazu in der Lage sind – alle arbeiten. Während Jobs eher Tätigkeiten sind, die man kurz- oder mittelfristig ausübt, um genau das zu erreichen, hat man sich bei der Ergreifung eines Berufes intensiver Gedanken darüber gemacht, wohin die Reise gehen soll. In den meisten Fällen ist diese Entscheidung nämlich auch mit einer Ausbildung oder einem Studium verbunden, das es zu absolvieren gilt. Warum wir das hier schreiben? Es gibt in unserer Gesellschaft sehr viele bezahlte Tätigkeiten, die über den Begriff „Beruf“ hinausgehen, weil der Lohn eine untergeordnete Rolle spielt.
Bestimmte Arbeiten und Dienstleistungen sind so dürftig bezahlt oder werden unter so widrigen Bedingungen ausgeübt, dass sie mittlerweile nicht mehr ohne Menschen auskommen, die sich zu diesen Tätigkeiten berufen fühlen. Zur Berufung wird eine Tätigkeit dann, wenn man sich mit ihr identifizieren kann, wenn sie einen erfüllt und wenn man sie gern macht. Diese Beschreibung trifft auf nahezu alle Sozialberufe zu. Und weil die Politik nichts oder wenig dafür tut, diese Berufe attraktiver zu gestalten, sind diese immer häufiger auf Menschen angewiesen, die sich zu ihnen berufen fühlen. Dafür wollen wir euch heute ein Beispiel liefern. Wenn ihr jetzt auch zuerst an den medizinischen Bereich gedacht habt, liegt ihr richtig.
Ob Ärztinnen, Ärzte, MFAs oder Pflegende im Allgemeinen, das sind Menschen, bei denen die Patient*innen im Mittelpunkt ihrer Arbeit und manchmal auch ihres Daseins stehen. Wie so ein Leben als Arzt aussieht, wenn die Personaldecke immer dünner wird und man immer mehr kompensieren muss, das zeigt euch nun der Twitteruser, Chirurg der Herzen und Intensivmediziner @Lam3th in seinem folgenden Thread.
Ich bin praktisch auf dem Weg ins Bett. Zähne geputzt… Anruf aus einer externen Klinik. Patient im kardiogenen Schock. Braucht eine herzchirurgische OP.
Kurze Absprachen,
ITS Bett – Check
Anästhesie – Check
Art der Diagnostik – Check
Indikation steht, Kapazitäten auch.— Lämêth (@Lam3th) August 8, 2022
Also los geht’s. Unterwegs im Auto durch die Nacht telefoniere ich mit dem Kollegen der Anästhesie. In welchem Zustand wird der Patient ankommen. Was habe ich vor. Was erwartet uns. Wir treffen vor der Patientin in der Klinik an.
Inzwischen ist es nach Mitternacht. Der Kollege— Lämêth (@Lam3th) August 8, 2022
auf der ITS nutzt die Gelegenheit und spricht andere Patienten mit mir ab. OP-Pflege, Kardiotechnik, Anästhesie – alle sind bereit. Wir sprechen uns ab.
Telefon klingelt. Die Patientin fährt in die OP Schleuse. Kaltschweißig. Asch-Grau. Sie ist noch wach.
Digitales Zeitalter –— Lämêth (@Lam3th) August 8, 2022
ich bekomme die gebrannten CDs mit den Filmen und hoffe sie sind lesbar. Der Transportarzt macht eine Übergabe. Alle Schweigen während wir uns auf das Umlagern vorbereiten. 1-2 Fragen. Umlagern. Der Patient wird in Saal gefahren. Der Anästhesist will im Saal einleiten. Zu groß
— Lämêth (@Lam3th) August 8, 2022
das Risiko einen Reanimation.
Zum Glück sind die Filme einlesbar. Ich rufe den Kollegen im auswärtigen Haus nochmal an. Der ist inzwischen zu Hause. Wir sprechen die Befunde nochmal durch. Ich sehe was anderes als er. Wir einigen uns. Leise absprachen mit dem OP Team. Dann— Lämêth (@Lam3th) August 8, 2022
spreche ich mit dem Patienten. Keine lange Aufklärung möglich. Er hat keine Bedenkzeit. Ihm läuft die Zeit davon. Als ich vor dem Hautschnitt auf die Uhr schaue ist es deutlich nach ein Uhr. Wir legen los. Das Herz ist mitgenommen. Die OP ist anstrengend. Alles was die OP
— Lämêth (@Lam3th) August 8, 2022
erschweren kann, ist bei ihm der Fall. Stunden vergehen. Auf der Uhr ist es bereits 4 Uhr. Meine Assistentin kämpft mit dem Sekundenschlaf. Der Instrumentierende Pfleger setzt sich immer wieder hin. Adrenalin hält mich wach. Immer wieder tauchen neue Schwierigkeiten auf. Im
— Lämêth (@Lam3th) August 8, 2022
Hinterkopf mache ich Plan B und C um die Patientin zu stabilisieren. Gleichzeitig der Versuch alle im Saal konzentriert zu halten. Blutung. Rhythmusstörungen. Weitere Blutungen. Ich merke wie meine Geduld schwindet. Ich bin gereizt. Versuche meinen Tonfall zu kontrollieren. Es
— Lämêth (@Lam3th) August 8, 2022
bringt nichts jetzt noch Leute anzumeckern. Aber warum ist die Naht noch nicht da? Finger auf die Blutung. Tief durchatmen. Der Pfleger ist genau so müde wie wir alle. Auch er arbeitet am Limit. Gegen 6:30 am nächsten morgen scheint die Lage kontrolliert. Der Patient ist
— Lämêth (@Lam3th) August 8, 2022
mitgenommen aber stabil. Bis er auf der ITS ankommt vergeht dennoch eine weitere Stunde. 7:30. Der Kardiotechniker lacht und sagt: „Ich habe euch alle ganz dolle lieb, aber ich kann euch heute nicht mehr sehen.“
Die Nacht ist aber noch nicht vorbei. Ich rufe die Angehörigen an.— Lämêth (@Lam3th) August 8, 2022
Die haben sicher auch eine unruhige Nacht verbracht. Viele Fragen. Ein letzer Blick auf die Patientin, Absprache mit der ITS. Autofahrt nach Hause. Laute Musik. Offenes Fenster. Der Bäcker hat schon auf. Meine Frau wird wach und wir frühstücken noch kurz zusammen. Bevor die Kids
— Lämêth (@Lam3th) August 8, 2022
aufstehen, liege ich im Bett. Bekomme nichts mehr mit. Das Mittagessen fällt aus, Abendessen im Halbschlaf. Ich falle wieder ins Bett. Keine 24h nachdem ich zu Hause bin, klingelt das Telefon. Der Diensthabende Kollege braucht im OP Hilfe. Kann ich bitte kommen? Auf meine Frage
— Lämêth (@Lam3th) August 8, 2022
ob ich noch vorher duschen kann, bekomme ich ein klares. Nein. Also steige ich wieder ins Auto… Mein Dienst beginnt erst in 2h. Der wird auch nicht besser…
— Lämêth (@Lam3th) August 8, 2022
Das sagen andere User:
Hand hoch, wem es auch die Sprache verschlagen hat. Könntet ihr euch vorstellen, den Arztberuf unter diesen Bedingungen auszuüben oder würdet ihr kündigen? Was die Leserinnen und Leser dazu zu sagen hatten, darf hier natürlich nicht fehlen. Wir haben ein paar der treffendsten Kommentare und Reaktionen für euch zusammengetragen:
Das machen die Betroffenen auch nur ein paar Jahre mit, danach ist der eigene Körper doch völlig im Eimer. Und wer soll die Lücken dann füllen?
Macht dann in fünf Jahren der Bundeswehr-Sani die Herz-OP, weil sonst keiner mehr da ist?
Träumchen.— Christian Bohnenkamp 🇪🇺 💉💉💉 (@BHNNKMP) August 8, 2022
Als Arzt solltest du dir auch mal Ruhe verordnen.
Wenn du komplett ausfällst, hat auch keiner was von.
Aber ich war auch so, ständig einsatzbereit.
Pass schön auf dich auf, du wirst noch gebraucht.— Meckerkopp 💉💉💉 (@Meckerkopp99) August 8, 2022
In einer ganz konkreten Situation (großer Unfall zB) ist es klar, das alle mal an ihre Grenzen gehen müssen. Aber das muss der Ausnahmefall sein. Der Alltag darf so nicht sein. Es müssten Untersuchungsausschüsse geben, um zu ermitteln, wer das System so an die Wand gefahren hat.
— Schupunkt (@Schupunkt) August 8, 2022
Ich will dir und allen anderen Kollegen meine grosse Wertschätzung aus drücken.Euch ist es zu.verdanken ,das trotz der katastrophalen Lage so viele kranke Menschen gerettet werden können.Ein ganz grosses Danke !!!!!!👍
— Willi (@Willi63436476) August 8, 2022
Ich weiß, dass das nicht Mal ein Tropfen auf den heißen Stein ist, aber Danke. Ich bin froh, dass es Menschen wie dich gibt. Fühle dich wie ein Held, denn du bist einer.
— Georg K. (@Neauloto) August 8, 2022
Spannend und leider tägliche Realität in deutschen Kliniken. Aus der Ferne muss man auch deiner Frau herzlich danken! Ohne ihre Unterstützung, Versorgung der Kinder und die Bewältigung des täglichen Haushalts und Alltags, ist dein medizinischer Einsatz gar nicht möglich.
— Alexander Grieger 💉💉💉 (@der_wanderer75) August 9, 2022
Oh Mann!
Wir ALLE müssen lauter werden! Das geht so doch nicht mehr weiter!✊— Perlentaucherin (@MonikaB14049372) August 8, 2022
Als Frau eines Herzchirurgen in Ausbildung lese ich diese Einblicke immer wieder gerne. Es ist nicht immer leicht verständnisvoll zu bleiben, wenn Verabredungen nach Diensten abgesagt oder verschlafen werden. Dies macht den Druck sehr greifbar und lehrt mich in Geduld. Danke!
— MiniGiftzwerg (@MiniGiftzwerg) August 8, 2022
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Passend dazu haben wir noch das: