Thread: Wir hatten eine faire Chance
Seit einem Jahr bestimmen die Pandemie und damit die Maßnahmen zur Eindämmung sowie das Coronavirus unser Leben. Kein Gespräch verging, in dem nicht einer der Begriffe “Corona, Maßnahmen oder Infektionszahlen” gefallen ist. Anfangs waren wir noch vorsichtig optimistisch, dass diese Pandemie schnell vorbeigehen würde. Einige von uns hatten sogar die Hoffnung, dass das Coronavirus die Schwächen unserer Gesellschaft aufzeigen und zu einer langfristigen Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen führen könnte. Im Frühjahr war Deutschland schließlich auch noch ein leuchtendes Vorbild in Sachen Corona-Maßnahmen und Eindämmungsmanagement. Viele andere Länder der Welt bestaunten unsere Souveränität, die niedrigen Infektions- und Todeszahlen. Ein Jahr später ist von dieser Sicht wenig geblieben. Das deutsche Impfprogramm ein einziges Desaster. Zu spät gestartet, zu langsam, zu kompliziert, zu bürokratisch. Die Coronamaßnahmen haben sich zu einen Dschungel aus halbgaren Kompromissen, Widersprüchen und regionalen Unterschieden entwickelt.
Und da die Stimmung in der Bevölkerung langsam zu kippen droht und wir uns mitten in einem Superwahljahr befinden, bestimmt längst nicht mehr das Infektionsgeschehen das politische Handeln. Die Folge: Es wird nun bei Indzidenzzahlen gelockert, bei denen wir im letzten Jahr noch Alarm geschlagen und alles zugesperrt haben. Hoteliers, Kultur- und Gastrobetriebe sowie Solo-Selbständige stehen weiter ohne Perspektive im Regen, während die Automobilindustrie dank steuerfinanziertem Kurzarbeitergeld Gewinne an die Aktionäre ausschütten kann. Ein Ende dieses schlechten Schauspiels ist nicht in Sicht. Erst gestern wurde der ursprünglich benannte „Wellenbrecher-Shutdown“, der seit Dezember ein andauernder Lockdown ist, erneut verlängert. Diesmal bis zum 28. März. Paradoxerweise beschloss man im gleichen Atemzug Lockerungsmaßnahmen. Trotz stagnierender Infektionszahlen, steigendem Mutationsanteil und alarmierenden Warnungen aus Wissenschaft und Medizin, wir würden uns mit dieser Strategie bald in der dritten Welle befinden. Es fällt schwer, da nicht den Mut zu verlieren und weiterhin diszipliniert zu bleiben. Und wenn das mittlerweile schon den privilegierten und gut situierten Menschen so geht, wie mag dann erst die Stimmung bei all jenen sein, denen es vor der Pandemie schon schlecht ging? Der User @_Brathering_ hat seinen persönlichen Pandemiejahresrückblick auf Twitter in einen kompakten Thread gepresst. Entscheidet selbst, ob ihr auch seiner Meinung seid.
Es nahm uns viel, und vielen das Leben. Aber das Virus schenkte uns auch eine Chance. Wir hatten eine Chance, eine faire Chance. Als Menschen und Gesellschaft, als Politik, Wirtschaft, Industrie, als Medien. 1/10
— Brathering (@_Brathering_) March 2, 2021
Als Gesellschaft. Wären nicht diese kleinen Lichtblicke, wie die unbewusste Freude, wenn Fremde höflich und bewusst Abstand halten im Supermarkt, gefühlt denken und handeln wie man selbst, ich würde verzweifeln, resignieren, aufgeben. 2/10
— Brathering (@_Brathering_) March 2, 2021
Auch ich müde von all den Einschränkungen. Doch in diesem Land sind seit November über 50.000 Menschen gestorben, „wir“ haben das gebeutelte Spanien überholt bei den Opfern. Das Virus fragt nicht nach unseren Befindlichkeiten. Es infiziert und es tötet. 3/10
— Brathering (@_Brathering_) March 2, 2021
Als Politik. Es gibt keinen Plan. Ob Lockdown oder Öffnungen, ob Verbote im Privaten, ob Gebote für Heimarbeit, ob Impfstoffbeschaffung, -verteilung, -priorisierung, ob Schulen, Kultur, Digitalisierung, Staatshilfen: Alles ist Flickwerk. Nichts greift ineinander. 4/10
— Brathering (@_Brathering_) March 2, 2021
Ein Jahr nach Beginn der Pandemie bietet die Politik ein erbärmliches Bild. Planlos, konzeptlos, ratlos. Die Politik hatte die Chance, zu zeigen, doch nicht nur bis zur nächsten Wahl zu denken, und mit nachvollziehbaren Lösungen lange verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. 5/10
— Brathering (@_Brathering_) March 2, 2021
Als Wirtschaft. Der Mittelstand entpuppt sich in weiten Teilen als rückständig, verhaftet in den Denkmustern der 80er Jahre. Mitarbeitende dürfen nicht von zu Hause aus arbeiten damit Hobby-Erich-Mielkes ihren kleinen Überwachungs- und Macht-Fetisch ausleben können. 6/10
— Brathering (@_Brathering_) March 2, 2021
Als Industrie. Statt einzugestehen, dass die Just-in-Time-Produktion in Niedriglohnländern keine Zukunftslösung sein kann und neue, kluge Konzepte zu entwickeln, wird die Hand aufgehalten, Kurzarbeitergeld kassiert und im Anschluss ein Rekordgewinn verkündet. 7/10
— Brathering (@_Brathering_) March 2, 2021
Als Medien. Abseits der Bild, geizen auch die angeblich doch so seriösen Medien nicht mit reißerischen Überschriften, Halbwahrheiten und halbgaren Artikeln und Beiträgen. Wie beim Umgang mit den Faschisten, wird selbsternannten Experten eine Plattform geboten. 8/10
— Brathering (@_Brathering_) March 2, 2021
Hauptsache Quote, Klickzahlen, Verkäufe stimmen. Schwurbler, Leugner, Hetzer finden Gehör, verunsichern die Menschen, wiegeln auf. Für die Wahrheit, für die Seriosität bleibt der Bereich zwischen den Zeilen. Als 5. Macht im Staat haben die Medien kläglich versagt. 9/10
— Brathering (@_Brathering_) March 2, 2021
Wir hatten eine Chance. Die Chance etwas zu verändern, es besser zu machen, humaner zu werden, miteinander, nicht gegeneinander. Wir haben diese Chance verkackt. Einzelne Lichtblicke können unsere moralische Bankrotterklärung nicht kompensieren. Aber wir hatten eine Chance. 10/10
— Brathering (@_Brathering_) March 2, 2021
Das sagen andere User:
Der eine oder andere wird uns und dem Autor des Threads Schwarzmalerei vorwerfen. Persönlich wünschen wir uns aber alle, dass es nicht zu einer dritten Welle und einem dritten Lockdown kommen wird. Die treffendsten Reaktion auf diesen eher bitteren Thread haben wir an dieser Stelle für euch zusammengefasst.
Erschreckend kurze und treffende Zusammenfassung.
Frustrierend – und die Art und Weise wie Wirtschaft und Politik mit diesem Thema umgehen beschämend.
Ein wirklicher, harter Lockdown hätte so viel bewirken können (vgl Neuseeland z. B.). Vergebene Chance und nun chancenlos 😞— 𝔻𝕒𝕧𝕖 ℂ𝕖𝕖ℙ𝕦𝕟𝕜𝕥 (@DbraveDave) March 3, 2021
Leider sehr viel Wahres drin und dran! Aber dann müssen zügig einige Kurven kriegen und etliche alte Gedankenzöpfe abscheiden. It‘s Umbruchtime, das ist halt extrem unangenehm. Bleibe positiv! Muss ja…!
— Matchmaker (@MatchmakerRhld) March 2, 2021
Entspricht leider der Wahrheit.
Aber ganz ehrlich, wenn man nichts erwartet, kann man nicht enttäuscht werden.
Wer genau beobachtet hat, wie die Gesellschaft sich in den letzten Jahren verändert hat, konnte nicht erwarten, dass das Verhalten sich durch einen Virus ändert. 😢
— nobodyisperfect (@Hexe1236) March 2, 2021
D als lernendes System; auch ich hatte drauf gehofft im April 20. Habe aber eingesehen, das der Status Quote für viele so lukrativ ist, dass lieber mit aller Macht (!) Pfründe gesichert werden und Innovation verhindert wird. Die Medien sind für mich die größte Enttäuschung.
— Stine (@denken_ist_cool) March 3, 2021
Eins zu eins meine Stimmung gerade und ich bin eigentlich ein fröhlicher, optimistischer Mensch.
— Womiru (@Womiru) March 2, 2021
Dystopisch, aber beängstigend zutreffend. Wir haben’s verkackt und zwar mit Ansage. Es ist zum Haareraufen.
— Sebbl (@satai_skar) March 2, 2021