Thread: Wie sich Armut anfühlt?
13,4 Millionen Menschen in diesem Land werden statistisch als arm erfasst. Das sind rund 16 Prozent der Bundesbürger*innen. (Stand Dezember 2021) Rund jede sechste Person gilt als armutgefährdet – auf einem schmalen, zersetzenden Grad zwischen „zu viel, um ein Anrecht auf Unterstützung zu haben“ und „zu wenig, um ohne finanzielle Sorgen durch den Alltag zu kommen“. Zahlen, die bedrücken und hinter denen sich Schicksale verbergen. Denn Armut ist nicht nur eine kritische Zahl auf dem Konto, Armut kriecht in jede Sekunde des Alltags, sie wartet beim Aufstehen auf ihren Einsatz und hört nicht auf, wenn das Licht ausgeht. Armut bedeutet permanenten Verzicht und Ausgrenzung, statt sozialer Teilhabe. Armut bedeutet, abgehängt zu sein. Armut bedeutet, dass Kinder sich irgendwann nicht mehr trauen, Bedürfnisse zu kommunizieren. Bei Filmen nicht mitsprechen zu können und Bücher nicht zu kennen. Armut ist Scham und Sorge und die schreckliche Angst davor, den Briefkasten zu öffnen. Und häufig bedeutet Armut, ein schlechtes Gewissen bei Dingen zu fühlen, die für andere Menschen völlig normal sind. Um Armut zu bekämpfen, müssen wir als Gesellschaft verstehen, wie toxisch finanzielle Ängste für die menschliche Psyche sind. Um dieses Bewusstsein zu fördern, teilen Menschen unter dem Hashtag #IchbinArmutsbetroffen ihre Erfahrungen in sozialen Medien. So wie Twitteruserin @claudine.
Wie sich Armut anfühlt? Ich habe mir gestern ein Kleid gekauft, seit vielen Jahren ein Kleid. (Ich trage sehr gerne Kleider.)
Es war mit 50 € nicht einmal teuer – es ist ein sehr schönes Kleid, leichte Popeline. Zeitlos.
Aber ich kann mich nicht freuen, weil ich ein …
— claudine (@claudine) May 6, 2022
… schlechtes Gewissen habe, Sorgen habe, dass es deswegen irgendwann nicht reicht, das Geld fehlt. Ich weiß, ich hätte mit dem Geld dies, das jenes Sinnvolleres kaufen sollen. Es gibt so viel auf das zu sparen ist. Ständig.
Eigentlich zerfleische ich mich nur noch.
— claudine (@claudine) May 6, 2022
Keine Freude mehr, ich kann es eigentlich zurück geben.
Das macht alles so müde.
— claudine (@claudine) May 6, 2022
So reagieren andere Userinnen und User:
Wie schwierig es ist, sich in diese Situation hineinzuversetzen, die Armutsbetroffene täglich durchleben, zeigen die vielen Kommentare, die @claudine in ihrer Entscheidung bestärken und ihr raten, die Neuanschaffung zu genießen. So lieb diese Aufforderung gemeint ist, die alles zersetzende Fähigkeit von Armut ist gerade, dass sie diese Art von Freude vergiftet. Wir haben ein paar nachdenkliche Kommentare zusammengefasst.
Ich kann dich verstehen. Ich für meinen Teil, spare mir gerade eine Kaution für eine Mietwohnung an. Ich versuche jeden Pfennig zu sparen. Ich veranschlage maximal 5 Euro zum Essen am Tag. Das schlaucht. Eine neue Hose? Das wäre dann Luxus. Das System ist schwer krank 😢
— Martin (@BorsatHRO) May 6, 2022
Ich kenne das nur zu gut…jetzt bin ich in der glücklichen Lage, genug Geld zu haben, aber es gab auch andere Zeiten…und das wirkt bis heute nach..meistens, wenn ich einkaufe, dann für meine Kinder. Für mich selbst bin ich immer noch nicht bereit mich zu freuen.
— FilderMum (@FilderMum) May 7, 2022
2) sollen für den Notfall, der jetzt, 1 o 2 Mon. später, eingetreten ist! Armut steckt im Kopf, im Herzen, in der Seele! Man kann einfach nichts mehr genießen! Man verwaltet seinen Mangel, mehr ist nicht! Da hilft auch gutes Zureden nichts, auch wenn Ihr es von Herzen gut meint!
— Niki ニシキー (@Nimeik) May 7, 2022
Das gibt uns die Userin mit auf den Weg:
Ich möchte mich an dieser Stelle wirklich sehr herzlich für eure vielen Likes/Retweets bedanken, die herzlichen Kommentare, auch Hilfsangebote, den Zuspruch. Vielen lieben Dank!
Ich weiß, dass ich nicht alleine bin mit meinem Gefühl. Aber manchmal tut es gut, zu lesen, man …
— claudine (@claudine) May 8, 2022
… ist damit gar nicht alleine, wie man sich manchmal fühlt.
Ich bin ein Stück weit gesegnet, weil ich Twitter als sehr guten sozialen positiven Ort erlebe. Aber auch, weil ich ein tolles soziales Umfeld habe, dass mich trägt, unterstützt, an das ich mich im Notfall …
— claudine (@claudine) May 8, 2022
… wenden kann, wenn gar nichts mehr geht. Das ändert nichts an der eigentlichen Situation und an meinem Gefühl vom Freitag. Ich weiß, das Glück haben sehr viele Menschen leider nicht.
Wir sind eine sehr gute und fürsorgliche Gemeinschaft immer noch sind in diesem Land! Aber …
— claudine (@claudine) May 8, 2022
… es ist so wichtig, dass wir aufhören hinzunehmen, dass die akuten Probleme der Ärmsten in diesem Land von der privaten Gemeinschaft geschultert werden, wenn sie vorrangig politisch gemacht sind.
Meine Bitte: Wählt keine Politiker:innen mehr, die es sich nicht vorrangig …
— claudine (@claudine) May 8, 2022
… zur Aufgabe machen, dass mit ihrer Politik ehrenamtliche riesengroße Organisationen wie die #Tafeln unnötig machen. Denn das muss eines/r jeden Politiker:in Aufgabe sein – in dieser unserer Gesellschaft in der Menschen in Altersrente arm sind (und ärmer werden),
— claudine (@claudine) May 8, 2022
… Alleinerziehende ihren Kindern kein Eis kaufen können, geschweige denn Kleidung oder Freizeitfreude. Und dabei geht es nicht um Luxus. Es geht um einfache Teilhabe.
Vielen Dank an euch alle!
— claudine (@claudine) May 8, 2022
Wenn euch das Thema auch so sehr beschäftigt, möchten wir euch noch diesen Thread mit auf den Weg geben: