Thread: So erlebe ich häusliche Gewalt als Lehrerin
Triggerwarnung: Dieser Beitrag thematisiert physische und psychische Gewalt gegen Kinder und Frauen.
Das Thema bestürzt, die Zahlen erschüttern. Und jeder einzelne Fall ist einer zu viel! Im Jahr 2019 haben die Jugendämter in Deutschland bei rund 55.500 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung festgestellt. Bei über einem Viertel der Fälle gab es Anzeichen für körperliche Gewalt durch Familienmitglieder oder im Haushalt lebende Personen. Also Schläge, Stöße und Schlimmeres. Jedes zweite betroffene Kind war jünger als acht Jahre. Die Dunkelziffer: unbestimmbar. Die Zahlen für 2020 stehen noch aus, aber im Inneren wissen wir es alle: Sie werden höher sein. Lockdown, geschlossene Kitas und Schulen, Heimarbeit, Kurzarbeit, keine Arbeit – intuitiv versteht man, dass dieser Zustand unweigerlich noch mehr Kinder, die von Familienmitgliedern oder im Haushalt lebende Personen körperliche (und nicht zu vergessen seelische) Gewalt erfahren, nach sich zieht. Ein unerträglicher Gedanke und vermutlich der Grund, warum das Video der Moderatorin Marlene Lufen medial so hohe Wellen schlug.
Doch wir tun den Opfern keinen Gefallen, wenn wir sie dazu instrumentalisieren, den wichtigen Lockdown zur Eindämmung der Corona-Pandemie zu kritisieren. Denn auch ohne Lockdown wird und wurde das System nicht immer den Opfern gerecht. Twitteruserin @fanvonfu erlebt als Lehrerin die Situation einer Familie und beschreibt, wie die Behörden in diesem Fall häuslicher Gewalt reagierten. Ein Thread, der uns und viele User sehr bewegt hat.
CN häusliche Gewalt
Schullschließungen werden dafür verantwortlich gemacht dass häusliche Gewalt zunimmt. Aber wie wird konkret damit umgegangen, wenn es dann konkret wird? Ein Beispiel bei uns derzeit:
— Sandra is damn tired 💅🏼😷🐝 #LeaveNoOneBehind (@fanvonfu) February 18, 2021
Kinder und Mutter werden vom Vater geschlagen. Das ist seit Jahren bekannt. Schülerin meldet das in der Schule. Wir reagieren, Meldung beim JA. Vater bekommt 10-tägiges Rückkehrverbot. Nach 10 Tagen zieht er wieder ein.
— Sandra is damn tired 💅🏼😷🐝 #LeaveNoOneBehind (@fanvonfu) February 18, 2021
Monate später dasselbe wieder. Wieder 10 Tage Rückkerverbot.
Pflicht der Kinder an der Notbetreuung teilzunehmen.
Gerichtsverhandlung: Entscheidung dass Vater in der Familie verbleiben darf. Sollte er noch 1x zuschlagen dauerhaftes Rückkehrverbot. Sollte er zurück— Sandra is damn tired 💅🏼😷🐝 #LeaveNoOneBehind (@fanvonfu) February 18, 2021
kommen, werden die Kinder aus der Familie genommen.
Was bedeutet das? Anstatt Frau und Kinder zu schützen wartet man auf eine erneute Eskalation und droht mit der Herausnahme der Kinder aus der Familie anstatt die Familie vor diesem Mann zu schützen und ihn JETZT auszuschließen.— Sandra is damn tired 💅🏼😷🐝 #LeaveNoOneBehind (@fanvonfu) February 18, 2021
So funktioniert der Schutz von Frauen und Kindern in Deutschland. Da können Schulen auch nicht viel machen.
Und für alle Victimblamer, warum die Frau ihn denn immer wieder zurücknimmt. Informiert euch wie toxische Beziehungen funktionieren. Danke!
— Sandra is damn tired 💅🏼😷🐝 #LeaveNoOneBehind (@fanvonfu) February 18, 2021
Die Konsequenz ist jetzt halt auch dass die Klassenlehrerin kontinuierlich ihr Handy bei sich hat, falls es eskaliert.
Nicht ihre Aufgabe. Eigentlich…— Sandra is damn tired 💅🏼😷🐝 #LeaveNoOneBehind (@fanvonfu) February 18, 2021
Wir möchten uns bei @fanvonfu und anderen Lehr- und Erziehungskräften bedanken, die sich für Familien einsetzen und Verdachtsfällen häuslicher Gewalt nachgehen. Es muss beklemmend sein, als erwachsene Vertrauensperson solche Situationen ohnmächtig zu verfolgen. Wie unerträglich muss das Ganze erst für die minderjährigen Opfer sein, die Gewalt ausgesetzt sind und gleichzeitig von den Behörden in eine unmögliche Situation gebracht werden! Diese Meinung vertreten auch andere User:innen.
Nein. Aber leider Standard heutzutage. Hatten wir an der Schule auch schon. Und ganz ohne Pandemie. Es ist unerträglich, dass die Betroffenen gerade für alles herhalten müssen, was vorher kaum jemanden interessiert hat.
— misanthropin mit maske (@lehrfroeschin) February 18, 2021
Das klassische Beispiel, so läuft es immer wieder und es ist für alle frustrierend, dass weiß ich als Schulsozialarbeiterin zur genüge 😔 Es liegt ein Fehler im System, Corona deckt es verstärkt auf und dennoch ändert sich kaum etwas 😡
— Sandra Piel 🇧🇪 🇪🇺🏳️🌈 (@SandraPiel) February 18, 2021
Das ist genau der Mist, der zeigt wie viel im dt. Familienrecht im Argen liegt.
Dann haben die Kinder vermutlich nun auch noch Angst sich zu melden aus Angst, ins Heim zu kommen. Was eine Scheiße!
— Inselsucherin (@inselsucherin) February 18, 2021
Hier musste nach viel Polizeieinsatz die mutter weichen. Daraufhin Drohung des jugenamt auf wegnahme der kinder. Kindeswohlgefährdung wg Obdachlosigkeit! Ersatzweise alleiniges Sorgerecht des Vaters. Vergessen: vater mehrfach einschlägig vorbestraft. wartet auf Platz im Knast.
— wi_lt (@wilt53031061) February 18, 2021
Eine fatale Auswirkung des mangelnden Schutzverständnisses des Staates zeigt sich auch im massiven Mangel von Schutz-/Frauenhäusern.
— carolinjoy (@carolinjoy_) February 18, 2021
Wir müssen uns alle vor Augen führen, dass Kinder und Jugendliche ein verbrieftes Recht auf eine gewaltfreie Erziehung haben. Dennoch fällt es Opfern von Gewalt häufig nicht leicht, sich selbst Hilfe zu suchen. Wir möchten Kinder und Erwachsene darin bestärken, aktiv um Unterstützung zu bitten, zum Beispiel unter einer der unten genannten Nummern. Gleichzeitig darf unsere Gesellschaft nicht die Augen verschließen. Lehrkräfte, Nachbarn, Freunde – unsere Gesellschaft misst ihren Wert auch daran, ob sie in der Lage ist, die schwächsten Mitglieder zu schützen. Das verpflichtet uns, Hilfe zu rufen, wenn die Opfer es selbst nicht können!
In akuten Bedrohungen von häuslicher Gewalt bietet sich immer der Notruf an, der unter der Notrufnummer 110 zu erreichen ist. Wer Informationen, Ratschläge oder weitergehende Hilfe braucht, der darf sich sehr gerne an das „Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen“ wenden: 08000 116016 – kostenlos und rund um die Uhr, selbst ohne Guthaben auf dem Mobiltelefon!
Kinder und Jugendliche, die keinen geeigneten Gesprächspartner finden, können sich (Montag bis Freitag von 15 bis 19 Uhr) telefonisch – auch anonym – unter der gebührenfreien „Nummer gegen Kummer“ des Kinderschutzbunds: 0800 1110333 beraten lassen.