Thread: Ich habe einen Ex-Schüler getroffen
Wie wichtig Sozialarbeit für unsere Gesellschaft ist, haben wir euch erst kürzlich in einem anderen Beitrag vor Augen geführt. An diese Thematik wollen wir heute anknüpfen, um euch einmal mehr zu verdeutlichen, dass Sozialarbeit weniger Beruf, sondern vielmehr Berufung und eine Herzensangelegenheit ist. Diejenigen, die sich in Sozialberufen der Gesellschaft und den Menschen widmen, tragen eine schwere Last. Sie alle werden täglich mit emotionalen Belastungen konfrontiert und müssen damit leben, dass nicht jede Geschichte ein Happy End hat und manchmal auch eben sehr traurig ausgehen kann. Aber auch diese Schicksale verdienen es, erzählt zu werden. Warum? Das zeigt der nun folgende Thread von @arnebanani. Macht euch selbst ein Bild!
Diesmal das Ende zuerst.
Es ist sonst sehr traurig.
Habe einen Ex-Schüler in der Stadt getroffen. Rote Augen, abgerissene Klamotten, schmutzig. „Ey, Herr Hopper. Sind sie das?“ sprach er mich mit brüchiger Stimme an. „Ja, hi Julian. Ich bin’s. Wie geht es dir?“ antwortete ich,
1— What would Hopper do?📯 🇺🇦 (@arnebanani) May 3, 2023
da ich ihn sofort wiedererkannte. Es wäre mir bei vielen anderen sehr schwer gefallen, so wie er jetzt aussah. Ca. 18 Jahre später. Aber nicht bei ihm. Der aus Thüringen zu uns kam. Hochintelligent, sensibel, durchaus sozial, mit viel Humor. Aber auch von seinem Vater
2— What would Hopper do?📯 🇺🇦 (@arnebanani) May 3, 2023
misshandelt. Ein Alkoholiker, der die Mutter verprügelte und mit dem Sohn Schlimmeres tat. Wir gerieten damals einmal heftig aneinander, er trat mir gegen das Schienbein, ich schlug ihm im Affekt vor die Brust. Ein anderer hatte ihn provoziert, ich ging dazwischen, was ihm
3— What would Hopper do?📯 🇺🇦 (@arnebanani) May 3, 2023
nicht passte. Danach weinte er. Nicht wegen meines Schlags, sondern wegen seines Tritts. Ich entschuldigte mich, er entschuldigte sich. Damit war’s geklärt. In dem einen Jahr, das er bei uns hatte, holte er den Stoff von drei Jahren Schule auf, machte einen sehr guten Abschluss
4— What would Hopper do?📯 🇺🇦 (@arnebanani) May 3, 2023
und wollte mit der Realschule weitermachen. Er bekam seine Emotionen sehr gut in den Griff, fing an, mir alles zu erzählen, was nicht in der Akte zu finden war. Die Betreuung in der Wohngruppe war überragend. Mit der Bezugsbetreuerin hatte ich einen ständigen Austausch.
5— What would Hopper do?📯 🇺🇦 (@arnebanani) May 3, 2023
Ein Ausspielen Schule gegen Wohngruppe war unmöglich. Denn das versuchte er natürlich. Bei den Hausaufgaben, bei Regelverletzungen etc. Alle waren mit der Entwicklung sehr zufrieden. Positiver als erwartet. Der alte Spruch „je eindeutiger die Diagnose, desto besser die
6— What would Hopper do?📯 🇺🇦 (@arnebanani) May 3, 2023
Prognose“ traf völlig zu. Einmal stand er bei mir vor der Tür. Wusste nicht wohin und wollte einfach nur reden. Ich machte uns einen Kaffee, wir hatten gerade erst gebaut und waren noch weit von einer Einrichtung entfernt, von der man hätte sagen können, dass alles passt.
7— What would Hopper do?📯 🇺🇦 (@arnebanani) May 3, 2023
Trotzdem – ich hab’s bis heute nicht vergessen – sagte er, während er etwas verloren auf dem Sofa saß und sich umguckte:„Boah, sie haben ein echt geiles Leben.“
Ich könnte noch viel mehr erzählen, wie er auch meinen späteren Werdegang mitprägte, was für Gespräche wir hatten,
8— What would Hopper do?📯 🇺🇦 (@arnebanani) May 3, 2023
aber das Wichtigste war: Ich musste mir eingestehen, dass ich einen Lieblingsschüler hatte. Nicht, dass ich andere nicht mochte. Aber ab und zu kommt es vor, dass einem ein Schüler über den Weg läuft, dem man sich besonders verbunden fühlt, wo man noch ein bisschen mehr als
9— What would Hopper do?📯 🇺🇦 (@arnebanani) May 3, 2023
100% gibt, der anders ist als andere. Erklären kann ich es nicht, aber ich habe damals fest geglaubt, wenn einer seinen Weg geht, dann er.
Heute weiß ich, wenn es denn eine Prognose gibt, dann die: Für Menschen gibt es keine sichere Prognose. Eine Kleinigkeit hier, ein
10— What would Hopper do?📯 🇺🇦 (@arnebanani) May 3, 2023
Schicksalsschlag da, und es wirft dich aus der Bahn. Jederzeit. Man weiß nur nicht, wen es wann erwischt. Sicherheit gibt es nie ganz.
Unser Gespräch in der Stadt dauerte ca. 5 Minuten. Er sei jetzt auf Droge, habe eine Therapie abgebrochen. Sowie die Schule damals. Er habe
11— What would Hopper do?📯 🇺🇦 (@arnebanani) May 3, 2023
keine Kraft für ein normales Leben gehabt, keine Freunde, jedenfalls keine richtigen, an denen er sich hätte aufrichten können. Er müsse jetzt weiter und wünschte mir alles Gute.
Er hinterließ eine Leere. Und ich bin traurig. Traurig, weil die kurze Zeit nicht gereicht
12— What would Hopper do?📯 🇺🇦 (@arnebanani) May 3, 2023
hatte, ihn damals nachhaltig zu triggern. Weil die gute Betreuung schlagartig endete, als er erwachsen wurde – erwachsen auf dem Papier. Traurig, weil er keine Zeit und Gelegenheit hatte, Erlebtes zufriedenstellend zu verarbeiten, weil er offenbar in altes Verhalten zurückfiel
13— What would Hopper do?📯 🇺🇦 (@arnebanani) May 3, 2023
und nun keiner mehr da war.
Warum erzähle ich das? Vielleicht weil ich gerade einen ähnlichen Fall habe. Und wieder ein sehr gutes Gefühl. Und wieder weiß ich, dass es eine Enttäuschung geben kann. Und auch, wenn es längst nicht immer ein Happy End gibt wie im Film, will
14— What would Hopper do?📯 🇺🇦 (@arnebanani) May 3, 2023
ich weiter daran glauben. Denn sonst müsste ich aufgeben.
Immer wenn ich den Film „Die Verurteilten“ sah, dachte ich an ein Zitat und dabei an Julian.
„Einige Vögel sind nicht dazu geschaffen eingesperrt zu werden. Sie haben ein zu glänzendes Gefieder. Und wenn sie
15— What would Hopper do?📯 🇺🇦 (@arnebanani) May 3, 2023
davonfliegen, dann jubelt der Teil in mir, der weiß, dass es eine Sünde war sie einzusperren. Und dennoch ist es da, wo man lebt trauriger und leerer, wenn sie weg sind.“
Ende— What would Hopper do?📯 🇺🇦 (@arnebanani) May 3, 2023
Ach Leute.
Ihr lest auch die traurigen Geschichten!
Tollste Bubble. Bin immer wieder überrascht.
Danke.— What would Hopper do?📯 🇺🇦 (@arnebanani) May 3, 2023
PS: Aus Gründen nochmal der Hinweis. Daten sind anonymisiert, Zeiten sind verändert und schlimme Einzelheiten eines Schicksals werden bei mir grundsätzlich nicht ausgebreitet. Sollte sich von selbst verstehen. Nicht nur wegen der Verschwiegenheitsklausel in meinem Vertrag.
— What would Hopper do?📯 🇺🇦 (@arnebanani) May 4, 2023
Das sagen andere User:
Enttäuschungen und Rückschläge kann es immer geben. Aufgeben ist keine Option! Wir können froh sein, dass es Menschen wie @arnebanani gibt, die ihren Job aus vollster Überzeugung und tiefstem Herzen machen. Natürlich wollen wir auch ein paar Leserinnen und Leser zu Wort kommen lassen. Wir haben eine kleine Auswahl an Kommentaren und Reaktionen hier für euch gesammelt:
Stimmt. Manchmal kannst du machen, was du willst. Nicht geht. Danke.
— What would Hopper do?📯 🇺🇦 (@arnebanani) May 3, 2023
Hochintelligent, sensibel und teilweise traumatische Familienverhältnisse.
Quasi der 3-fach Jackpot um in unserem System komplett unterzugehen, wenn man nicht zumindest 1 dauerhafte Bezugsperson hat, die einem hilft. Egal wie.— Galactic President Superstar McAwesomeville⛷️☮️ (@BastianBaBux) May 4, 2023
Danke für die bewegende Geschichte. Ich denke, wir brauchen nicht technologieoffene Innovationen, damit wir unseren materiellen Wohlstand erhalten, sondern mehr gesellschaftliche Wärme und emotionalen Wohlstand.
— Sebastian Jstr (@drjstr) May 4, 2023
Einem sehr guten Freund hat tatsächlich der Bund geholfen, den Absprung aus dem verkorksten Elternhaus zu schaffen.
— What would Hopper do?📯 🇺🇦 (@arnebanani) May 3, 2023
Hopper,ich wünsche mir wirklich für meine Kinder einen Lehrer wie dich.
Ich weiß wie wichtig gute,einfühlsame Lehrer sind.Ich habe sogar eine ähnliche Geschichte.Auch ich bin abgestürzt und doch ist das Leben eine Wundertüte,die Türen bereithält, die man für verschlossen hielt.— Ghost (@ghostotcd) May 3, 2023
Das kenne ich auch. Und Wohngruppe kann so viel verändern. Leider mache ich direkt in mehreren Fällen gerade die Erfahrung, dass die Wohngruppe damit überfordert ist, warum auch immer. Für diese Kinder ist es dann sehr schwer.
— local secondary NRW 🌈📯 (@Local_Secondary) May 3, 2023
Ich stehe heute noch mit meinen damaligen mathelehrer in kontakt. Er hat mir durch die schulzeit geholfen und auf der Abschlussfeier liefen tränen. Es war nie etwas sexuelles zwischen uns (wurde von schülern öfter verbreitet), er war einfach wie n großer bruder der mich beschützt
— Praktikanten gang shit 🥴 (@aricavaon) May 3, 2023
Und vielleicht war diese letzte Begegnung wieder ein Zündfunke für Veränderungsmöglichkeiten bei ihm. Es hilft, wenn man sieht, da ist jemand, der an mich glaubt.
— RET is need (@is_ret) May 3, 2023
Meine Schwester und ich sind Pflegekinder. Hatten Glück mit der Familie die unsere wurde und mit dem Jugendamtbetreuer. Er hat sich noch Jahre nach unserem 18. bei meiner *Pflege-* Mutter erkundigt wie es uns geht. Seine Besuche waren auch immer toll
— Herr MaHumer Rotations-Designer (@MaHumer) May 3, 2023
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Schaut doch hier noch rein, wenn ihr mögt: