Thread: Aufgeben ist keine Option
Schulsozialarbeit – ein Begriff, der in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Doch was steckt eigentlich dahinter? Sie beinhaltet professionelle Unterstützung und Förderung von Schülerinnen und Schülern. Normalerweise wird sie von speziell qualifizierten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern ausgeübt, aber nicht selten – Sparmaßnahmen und Fachkräftemangel sei Dank – müssen auch ganz normale Lehrerinnen und Lehrer diese Aufgabe erfüllen. Ziel ist es, Kindern und Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen eine Perspektive zu bieten und sie auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben zu begleiten.
Das Schulsystem allein kann nicht alle Probleme lösen. Viele Jugendliche kämpfen mit familiären Problemen, psychischen Belastungen oder haben Schwierigkeiten im Umgang mit Mitschülerinnen und Mitschülern. Genau da kommt die Schulsozialarbeit ins Spiel. Sie bietet den Schülerinnen und Schülern eine Anlaufstelle und unterstützt sie dabei, ihre Probleme zu bewältigen. Ein unverzichtbarer Baustein für eine bessere Zukunft und für viele die letzte Chance vor dem sozialen Abstieg oder einem möglichen Aufenthalt im Jugendgefängnis.
Auch die schwierigsten Jugendlichen sollten eben nicht aufgegeben, sondern eher unterstützt und gefördert werden. Hierbei ist es wichtig, dass die Schulsozialarbeiter*innen und Lehrkörper nicht nur als Vermittlerinnen und Vermittler agieren, sondern auch als Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für Eltern und andere Institutionen dienen. Nur durch eine enge Zusammenarbeit aller Beteiligten können Probleme nachhaltig gelöst werden. Dabei ist Schulsozialarbeit auch von großer Bedeutung für das gesamte Schulklima. Denn dadurch werden Konflikte frühzeitig erkannt, aufgelöst oder gar verhindert. Es entsteht im besten Falle eine offene Kommunikationskultur, die dazu beiträgt, dass sich die Schülerinnen und Schüler in ihrer Schule wohl und sicher fühlen.
Der Twitteruser @arnebanani hat für uns und euch ein schönes Beispiel aufgeschrieben, das einmal mehr zeigt, wie wichtig es ist, Menschen nicht leichtfertig aufzugeben. Aber lest selbst.
Bevor Julia zu mir in die 8. Klasse kam, hatte sie bereits mehrere Anzeigen wegen Körperverletzung, Drogenbesitz und Widerstand gegen die Polizei. In der 7. Klasse hatte sie gemeinschaftlich mit 3 MitschülerInnen einer anderen Schülerin kurz nach Schulschluss einen
1— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
selbstgemachten Cocktail aus Kotze, Hundescheiße, etc. über den Kopf gegossen, die Tat gefilmt und veröffentlicht, weil diese, O-Ton, „frech gewesen war“. Julia hatte damals den Förderbedarf Lernen und emotionale und soziale Entwicklung. Weil sie dann erst 14 wurde, wurden
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die Anzeigen zwar strafrechtlich gesehen nicht verfolgt, aber gesammelt. Das Jugendamt war schon lange an der Familie dran und der größere Bruder hatte zwei Jahre vorher bei mir kurz vor einem erfolgreichen Hauptschulabschluss mit tollen Leistungen leider hingeschmissen und
3— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
war nur noch unter Drogen anzutreffen. Die Mutter war alleinerziehend. 5 Kinder, die der Vater allesamt von klein auf regelmäßig verprügelte, bis sie ihn rausschmiss. Sie selbst war arbeitslos, alkoholkrank und Julia musste sich um einen Großteil des Haushaltes sowie um
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ihre jüngeren Geschwister kümmern. An Absprachen konnte sich die Mutter nicht halten oder erinnern, und von ihr aus gab es keinen Kontakt zur Schule. Sie selbst war bereits von der Schule geflogen und hatte Lehrkräfte durchweg als negativ erlebt. Dann erkannte ich, dass
5— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
Julia zu hervorragenden Leistungen in Deutsch und den Nebenfächern in der Lage war. Mit viel Zuspruch und Unterstützung fand sie Gefallen am Unterricht und war durch ein paar erste gute Noten motiviert, öfter zur Schule zu kommen. Natürlich auch, weil ich ihr klar machte,
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dass jeder unentschuldigte Fehltag gemeldet würde und die Bußgelder die Mutter nicht würde bezahlen können. Das heißt dann für SchülerInnen über 14 oft Sozialstunden. Auch drückte ich aber immer wieder ein Auge zu und nahm Entschuldigungen von Julia an, wenn es mir plausibel
7— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
vorkam. Zunächst lief es mittelprächtig. Dann passierten zwei Dinge kurz nacheinander. Erst wurde Julia noch vor ihrem 15. Geburtstag schwanger von ihrem Freund, der gerade erst seinen Abschluss, auch bei uns, machte und dann wurde sie auf dem Schulgelände mit Cannabis
8— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
erwischt. Sie hatte es nicht nur konsumiert, sondern auch eine beträchtliche Menge bei sich. Auf mein Drängen hin zeigten wir sie nicht bei der Polizei an, sondern luden zu einer Klassenkonferenz ein. Dort beschlossen wir folgende Dinge: Julia und ihre Mutter gaben sich
9— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
einverstanden, dass sie bei Aufforderung ihre Taschen entleeren musste. In unregelmäßigen Abständen wurden von einer Kollegin Drogentests in der Schule durchgeführt. Sollte ein Test positiv sein, würde eine Suspendierung erfolgen. Zudem verpflichtete sich Julia, einmal die
10— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
Woche zu einer Drogenberatung zu gehen. Diese rief mich regelmäßig an und berichtete der Schule vom Verlauf. Auch hier sollte es keine Fehlzeit geben. Durch unser Angebot, auf eine Anzeige zu verzichten und gleichzeitig alles zu begleiten, kam es zu einer Einigung. Zudem
11— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
machten wir Julia und ihrer Mutter klar, welche Konsequenzen ein Erfolg und auch ein Nichterfolg haben würden, indem wir rein hypothetisch verschiedene Szenarien durchspielten und von den Lebenswegen anderer SchülerInnen in der Vergangenheit erzählten. Dann hoben wir auf
12— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
Beschluss der Klassenkonferenz den Förderbedarf Lernen auf, wodurch Julia die Chance auf einen Hauptschulabschluss nach der 9. Klasse bekam, was sie zusätzlich motivierte und ihr gleichzeitig zeigte, dass wir sie aufgrund ihrer Leistungen ernst nahmen und ihr tatsächlich
13— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
helfen wollten.
Von da an passierten nur noch gute Dinge. Ein halbes Jahr später hatte sie Panik vor der Matheprüfung. Mathe war ihr Angstfach. In den Pausen blieb sie aufgrund der Schwangerschaft in der Klasse und nutzte die Zeit, um Lücken im Kopfrechnen zu schließen. Nur
14— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
nach Formeln rechnen fiel ihr weiter schwer und sie hatte wenig Selbstvertrauen. Dann kam die Deutschprüfung. Eine Zwei! Dann die Matheprüfung. Am Ende, als noch Zeit war, guckte ich auf die Aufgaben und zeigte auf ein paar von ihnen: „Guck dir diese Rechnung nochmal an,
15— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
bitte!“ Das hatten wir vorher vereinbart als Codesatz, wenn eine Rechnung nicht stimmte. Den Fehler finden musste sie natürlich selbst. Mehr Hilfe konnte ich nicht geben. Sie rechnete, anders als die anderen Prüflinge, bis zur letzten Sekunde, gab mir die Arbeit ab und sagte:
16— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
„Mein Gott, ich glaube, ich habe alles falsch.“
Ich guckte ihre Arbeit zu Hause als allererste durch. Es war eine 2 minus. Das Schlimmste für mich war, dass ich ihr erst nach der mündlichen Prüfung die Ergebnisse sagen durfte. Ein Prozedere, dass es jetzt nicht mehr gibt.
17— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
Die mündliche Prüfung war ebenfalls eine 2. Als ich ihr die Noten sagte und ihr zum Abschluss gratulierte, fiel mir Julia um den Hals und bedankte sich für alles.
Etwa drei Jahre später besuchte mich Julia mit Kind in der Schule. Ein paar der Klamotten waren von meinen
18— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
Kindern. Wir hatten ein paar Sachen für sie aussortiert und ihr geschenkt. Ihr Mann war fast fertig mit der Ausbildung zum Tischler. Als ich das wunderschöne Kind auf dem Arm hatte, sagte Julia zu mir: „Und keine Angst. Mein Kind wird niemals auf diese Schule gehen!“
19— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
und lächelte. Wir haben bis heute, rund 13 Jahre später, Kontakt. Aus dem Mädchen, dass viele schon aufgegeben hatten ist heute eine glückliche und fürsorgliche Mutter geworden.
Ja, ich weiß. Es läuft nicht immer so. Das gehört zur Wahrheit dazu. Aber dies ist kein
20— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
Einzelfall und ich habe sehr viele solcher SchülerInnen kennen gelernt. Und auch zur Wahrheit gehört, dass jeder Tag im Gefängnis ein Vielfaches einer guten Förderung kostet. Abgesehen vom menschlichen Aspekt, der noch viel wichtiger ist, lohnt sich jede Anstrengung, jeder
21— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
Versuch. Und wenn du nur einem einzigen Menschen auf die richtige Bahn hilfst ist das unbezahlbar.
Leider werden die Bedingungen dafür an Regelschulen immer schlechter und die nötige Förderung immer schwieriger. Statt multiprofessionellen Teams aus mehreren Disziplinen sind
22— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
Lehrkräfte immer öfter Einzelkämpfer. Wenn man dann gleichzeitig nach einem härterem Strafgesetz schreit, verfehlt man das Thema an der Realität vorbei. Jeder bekommt die Gesellschaft, in die er investiert.
23— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
Oder eben auch nicht. Das Wichtigste sind unsere Kinder. Warum haben sie keine Lobby? in den nächsten Jahren sollen die Förderschulen „Lernen“ in Niedersachsen dicht machen. Schulen, an denen viele Kinder aufgeblüht sind. Das Kultusministerium ist der Meinung, dass dies alles
24— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
durch gute Betreuung aufgefangen wird. Ein Modell, dass schon jetzt vorne und hinten nicht funktioniert. Man kann beim Scheitern seit Jahren in Zeitlupe zugucken. Sie wissen es besser. Und lernen nichts.
25— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
Vielen Dank für das positive Feedback euch allen. Das tut wirklich gut. Und ich freue mich sehr darüber. Aber!
Bitte bitte, ich bin kein Held oder sowas. Ich bin ein ganz normaler Typ der einfach seinen Job macht und deswegen auf Missstände hinweist die uns alle angehen.
Danke!— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
Das sagen andere User:
In Zeiten, in denen der gesellschaftliche Druck auf den Einzelnen immer größer wird, ist es wichtig aufzuzeigen, dass niemand leichtfertig aufgegeben oder abgehängt werden darf. Jeder hat Hilfe und eine faire Chance verdient. Und im besten Falle kommt dabei sogar eine Erfolgsgeschichte heraus, so wie die, die ihr gerade gelesen habt. Wie immer wollen wir euch auch zu dieser Geschichte ein paar treffende Kommentare und Reaktionen zeigen und haben diese hier gesammelt:
Das machen Leute, die keine anderen Antworten haben. 👍
— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
Danke dafür.
Ich habe aus dem Referendariat einen Satz in Erinnerung:
„Wir können nicht alle retten…aber wir sollten es versuchen. Jeden Tag.“Ab und an kriege ich nach Jahren noch eine kleine Meldung von SuS; diese Momente sind Gold wert.
— Rhylthar (@rhylthar) March 25, 2023
Ich glaube ich sollte meiner Lehrerin, die -so wie du- damals für mich da war, einen Brief schreiben um meine Dankbarkeit auszudrücken. Menschen wie ihr seid für uns Schüler Gold wert.
— Kassandra VanPlüsch (@K_VanPluesch) March 25, 2023
Das ist das tatsächlich Schwere an der Arbeit. Man darf nicht persönlich nehmen und muss trotzdem persönlich nah dran sein.
— What would Hopper do? 🇺🇦 (@arnebanani) March 25, 2023
Ich hatte einen Lehrer der Dir nicht unähnlich war. Ohne ihn wäre ich nicht wo ich bin und würde vielleicht gesiebte Luft atmen. Einer der Gründe warum ich viel Respekt vor Lehrenden habe. Es ist oft nicht Job, sondern Berufung.
Danke, dass du nicht aufgibst.
— Stefan 2.0 – jetzt auch digital (@Stefan_Meiners) March 25, 2023
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Wenn ihr mögt, schaut doch hier noch rein: