Thread: Die Lehrerin meint, es sei ein Entwicklungsrückstand
Es gibt Erwachsene, die nicht wissen, wie man eine Waschmaschine bedient. Einkommensstarke Männer und Frauen, die eine Aubergine nicht von einer Zucchini unterscheiden können – oder rechts von links. Versierte Menschen, die keine Ahnung haben, wie man ein Spiegelei zubereitet oder eine Lampe anschließt. Vom Einräumen der Spülmaschine wollen wir erst gar nicht anfangen! All diese kleinen Herausforderungen sind im Alltag relativ einfach zu umgehen. Wir suchen uns eine Alternative, bitten einfach jemand anderen, die Aufgaben für uns zu erledigen, oder wir beauftragen eine*n von unzähligen Dienstleister*innen, die – völlig zurecht – aus den Schwächen oder fehlenden Interessen mancher einen Business Case ableiten.
Scham ist ein Gefühl, das dabei völlig fehl am Platz ist. Warum auch? Nur weil jemand keinen Kuchen backen kann, leitet man daraus nicht ab, dass er oder sie unfähig im Job ist, oder? Warum sollte eine Schwäche auch ein Parameter für das allgemeine Dasein sein? Bei Kindern jedoch lassen wir uns oft dazu hinreißen, anhand von vordefinierten Listen den allgemeinen Entwicklungsstand einzustufen. Kann das Kind an einer Linie entlangschneiden? Kann das Kind schon den eigenen Namen schreiben? Fahrrad fahren? Auf einen Baum klettern? Oder eben die Schnürsenkel binden – wie im folgenden Thread von Twitteruser @Kizito5.
Die Lehrerin in der Schule meint, es sei ein Entwicklungsrückstand, wenn die 6-jährige Erstklässlerin noch keine Schleife binden kann. Wir sollten da dringend dran arbeiten.
In welchem Alter konnten eure Kinder Schleifen binden?
— Commander Keen (@Kizito5) April 21, 2022
Natürlich kann niemand von einer Lehrkraft erwarten, sämtlichen Kindern die Schuhe zu binden. Aber ist das überhaupt das Problem? Wenn man Spaß hat, kann man sich ja mal in Schuhgeschäften umblicken, bei welcher Größe überhaupt Schnürsenkel beginnen. Der Markt hat nämlich längst auf die vielen, vielen Kinder reagiert, die sich mit dem Schuhebinden schwertun. Und auch für die nicht kleine Zahl an Erwachsenen, die keine Lust haben, sich damit abzumühen, gibt es Lösungen! Das Angebot an dehnbaren Schnürsenkeln oder Schuhen zum Reinschlüpfen oder mit Klett- bzw. Reißverschluss ist riesig. Die User*innen reagierten jedenfalls ziemlich entspannt auf die Sechsjährige. Wir haben wie üblich die besten Kommentare für euch zusammengefasst.
Wo ein Wille ist, ist auch ein Markt
K1 ist fast 8 und kann es noch nicht. Er hat immer noch null Bock es zu lernen. Wir warten jetzt darauf, dass die Füße so groß werden, dass es nur noch Schnürschuhe gibt😅
— rabaukenliebex2 (@rabaukenliebex2) April 21, 2022
Eintrittskontrolle ab sofort mit dem Schnürsenkel-Test?
Pffff, hab an fast allen Schnürschuhen auf so elastische Schnellverschluss-Schnürsenkel umgestellt 😝
— ǝʇʇǝlǝssɐnb (@Quasselette) April 21, 2022
Was sollen die Nachbarn sagen?
K3 konnte das erst mit 8 oder 9. Und das lag auch daran, dass ich beim 3. Kind nicht mehr die Ressourcen hatte wie beim 1.
Einschränkende Bedeutung für sein weiteres Leben: 0.
— Inke Hummel (@HummelFamilie) April 21, 2022
Meine Fünfjährige hat es sich gerade verbissen selbst beigebracht.
Ich kann es bis heute nur in der Kindergarten-Variante (zwei Schlaufen irgendwie verknoten.) Ist aber auch noch nie in einem Vorstellungsgespräch abgefragt worden.— Östlich (@jetzt_Georgien) April 21, 2022
Entspannung ist die beste Beraterin
Diese Diskussion hatte ich auch kürzlich hier. Der 5 jährige kann es nicht, aber es gab halt auch einfach nie Schuhe, wo das notwendig war. Daher meines Erachtens kein super wichtiger Skill heute. Lernt er schon, wenn es notwendig wird 🤷
— ǝʇʇǝlǝssɐnb (@Quasselette) April 21, 2022
Was Hänschen nicht lernt, lernt halt Hans
Haben es mit 6J. probiert, aber Kind hat sich geweigert und wollte partout nicht. Versuche (auch spielerisch) wurden geblockt. Haben Klettschuhe gekauft und das Kind in Ruhe gelassen. Mit 8J. wollte es unbedingt Schleife binden lernen und hatte es in einer Minute raus. Stressfrei
— Tilli (@a12_tilli) April 21, 2022
Alles Definitionssache
Sie verwechselt da etwas. Ein Entwicklungsrückstand bedeutet, dass ein Kind aufgrund seiner Entwicklung zu etwas nicht in der Lage ist. Das kann zwar gefördert werden, aber nicht erzwungen. Wenn das Kind feinmotorisch so weit ist, kann es Schleife lernen. Ist es das nicht, nicht.
— Sozialhexe (@Amyrlin_) April 21, 2022
Ihr könnt also daran arbeiten, so lange ihr wollt. Die Schleife kann es erst, wenn es so weit ist. Vom Fußballtraining und meinem eigenen Kind kann ich sagen: vor Schuleintritt ist die Ausnahme, nicht die Regel.
Und Klett-Schuhe sind nichts Schlimmes.
— Sozialhexe (@Amyrlin_) April 21, 2022
Wo kommen wir denn da hin?
Den Doppelten Windsor bekommt sie hin, seitdem sie 4 ist. Mit dem Prince-Albert-Knoten hat sie noch leichte Probleme. Unter 2 Minuten ist nach wie vor nicht drin. 😏
— 👃🏻LordNase👃🏻 (@CaligoCavus) April 21, 2022
Von wann stammt eigentlich der Schleifchentest?
Würde vielleicht mal rückfragen, ob bei ihr die Entwicklung des Klettverschlusses schon angekommen ist. Ich find’s ja gut, wenn auch auf Feinmotorik geachtet wird, aber womöglich ist Schleifenkontrolle nicht mehr so super zeitgemäß.
— Nils Pickert (@pickinese) April 21, 2022
Unsere KiÄ kommt aus der DDR. Dort mussten die Kinder mit 3 die Schleife (mangels Verschlussalternativen) können. Sie meint, mit 6 Jahren sollten es die Kinder können. K1 (7) kann es nicht.
Aber: –>— 🔴Ulli_1234 (@Ulli_O) April 22, 2022
Freunde zogen ihre eigene Tochter damit auf, dass sie damals mit 16 Jahren noch keine Schleife binden konnte. Sie ist nicht zurück geblieben. Im Gegenteil – da gehört einiges dazu, so lange um Schnürschuhe herum zu kommen.😂
Hat trotzdem Abi gemacht……— 🔴Ulli_1234 (@Ulli_O) April 22, 2022
Wenn es nach Twitter geht, dann sagt es praktisch nichts über einen Menschen aus, ob bzw. wann er lernt, Schnürsenkel zu binden. Es scheint jedenfalls schwer vorstellbar, dass es den Generationen, die mit Smartphones aufwachsen, mal an Fingerfertigkeit fehlen wird. Und falls doch, dann scheint dies doch ein günstiger Zeitpunkt zu sein, um sich genau dafür Lösungen einfallen zu lassen.
Dass das Alter eben nicht unbedingt eine relevante Größe ist, zeigt auch dieser Thread: