Thread: „Als ich gerade geboren war, entdeckten meine Eltern die Anthroposophie“
„Anthroposophie“ ist für uns ein Angstwort. Nicht nur wegen der verstörenden Schreibweise, die einen dazu zwingt, beim Tippen überdeutlich mitzusprechen, sondern insbesondere wegen der Ideologie. Allein der Wikipedia-Artikel lässt vernunftbegabten Lesenden die Haare zu Berge stehen. Auszug gefällig? „Die Anthroposophie versucht, Elemente des deutschen Idealismus, der Weltanschauung Goethes, der Gnosis, christlicher Mystik, fernöstlicher Lehren sowie der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu [Rudolf] Steiners Zeit miteinander zu verbinden. Eine Hauptquelle der anthroposophischen Lehre bildet die okkulte „Geheimwissenschaft“, die Rudolf Steiner nach eigenen Aussagen aus Erforschungen einer für ihn bestehenden geistigen Welt, mit Hilfe von „Hellseherorganen“, erlangt habe.“ Ihr könnt ruhig weiterlesen, aber es wird nicht unbedingt besser.
Leider gilt die unwissenschaftliche Weltanschauung auch heute noch in manchen Kreisen als gesundheitlicher State of the Art. Das ist nicht nur bedenklich, sondern – zumindest in weiten Teilen – grob gesundheitsgefährdend. Insbesondere Eltern, die ihren Kindern den Zugang zu evidenzbasierter Medizin verweigern, Impfungen verteufeln und so Behandlung und Medikation akuter Krankheiten unmöglich machen, erweisen dem Nachwuchs bestenfalls einen Bärendienst. Da ist es auch kein Trost, dass dies aus der Überzeugung geschieht, im besten Sinne des Kindes zu handeln. Twitteruserin @notemmalou wurde seit frühester Kindheit anthroposophisch „behandelt“ und beschreibt ihren Leidensweg, der sie auch heute noch beschäftigt. Wir danken ihr herzlich dafür, dass sie uns an ihren Erfahrungen teilhaben lässt und zur Aufklärung beiträgt.
Eine Geschichte über anthroposophische Medizin: Als ich gerade geboren war, entdeckten meine Eltern die #Anthroposophie. Es begann mit einer netten „Krabbelgruppe“ für Kleinkinder. Es ging weiter mit Empfehlungen an anthroposophische Ärzt*innen. Der Name meines ersten 1/17
— emmalou (@notemmalou) March 12, 2022
Kinderarztes wurde bei uns zuhause immer mit großer Bewunderung ausgesprochen. Noch heute wird erzählt, wie er sein eigenes Geburtstagsfest an einem Wochenende verließ, um nach mir zu schauen. Nötig war das deshalb, weil ich ungeimpft schwere Krankheiten durchstehen musste. 2/17
— emmalou (@notemmalou) March 12, 2022
Dabei wurde ich mit Zuckerkügelchen – also gar nicht – medizinisch behandelt. Der Moment, in dem man mich gezwungenermaßen der „Schulmedizin“ eines Krankenhauses überlassen müsste, wurde möglichst lange hinausgezögert. Impfungen müssten sehr sorgfältig abgewogen werden und 3/17
— emmalou (@notemmalou) March 12, 2022
hätten viele Risiken, sagte man meinen Eltern. Die Wichtigkeit der Krankheit für den kindlichen Organismus und meine Entwicklung sei nicht zu unterschätzen. Geimpft wurde ich immerhin gegen Polio, Diphtherie, Tetanus. Ich hatte sie alle, die sogenannten „Kinderkrankheiten“: 4/17
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Masern, Mumps, Keuchhusten, Röteln, Windpocken. Auch eine Mittelohr- und eine Lungenentzündung. Meine Tante, die damals Biologie studierte, sah mich mit Keuchhusten wochenlang leiden. Heute erzählt sie, wie schwer sie das von außen mit ansehen konnte. Wie leid ich ihr tat. 5/17
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Aber meine Eltern waren überzeugt davon, mir etwas Gutes zu tun. Im Bücherregal zuhause standen die „Elternsprechstunde“ und die „Kindersprechstunde“ von Michaela Glöckler. Manchmal las ich selbst darin. Bei einer Kinderärztin sollte ich mir wegen meiner Schlafstörungen 6/17
— emmalou (@notemmalou) March 12, 2022
einen Heilstein aussuchen. Jedes Mal, wenn ich mit hohem Fieber tagelang im Wohnzimmer lag, erklärten meine Eltern mir, dass ich jetzt wieder einen ganz wichtigen Entwicklungsschritt mache. Nach jeder Krankheit sei ich ein bisschen fähiger als vorher, das sei gut erkennbar. 7/17
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Mit 14 wurde ich dann doch noch gegen Röteln geimpft, weil der Immunschutz nicht ganz sicher war. Der Schutz potenziellen ungeborenen Lebens war da wohl doch wichtiger als meine spirituelle Entwicklung. Je älter ich wurde, desto mehr machte ich meine Arztbesuche selbst. 8/17
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Während meiner Jugend und noch bis Anfang 20 ging ich zu einer privatärztlich behandelnden anthroposophischen Ärztin, die „Kinesiologie“ anwandte. Das heißt, dass sie anhand von Fragen und der Spannung meiner Armmuskeln seelische Hintergründe körperlicher Leiden ermittelte. 9/17
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Gegen meine Gelenkschmerzen sollte ich 4 Wochen lang jeden Tag den Satz „Ich vertraue mir.“ sagen und dabei gegen mein Brustbein klopfen. Als das nichts half, bekam ich eine permanente Akupunkturnadel, die sich nach 2 Tagen schmerzhaft entzündete. Bei einer Hormonstörung 10/17
— emmalou (@notemmalou) March 12, 2022
besuchte ich eine Heilpraktikerin, sprach über mein inneres Kind und trank kinesiologisch ermittelte Tee-Mischungen. Einmal ging ich zu einer Ärztin, die angeblich „traditionelle chinesische Medizin“ praktizierte. Ich betrat ihr Sprechzimmer, sie schaute mich an, sagte: 11/17
— emmalou (@notemmalou) March 12, 2022
„Sie sind ja ein Milztyp. Daher werden sie vermutlich erst mit 60 Jahren das tun, was sie wirklich tun wollen. Sie sollten nicht zu viel Sport machen und können nicht vor 24 Uhr schlafen gehen.“
Ich weiß heute nicht mehr, wie viel Geld ich auf diese Weise verschwendet habe. 12/17— emmalou (@notemmalou) March 12, 2022
Ich will es auch nicht wissen. Es macht mich so schon wütend genug. Heute schätze ich mich glücklich, dass mir nichts schlimmeres passiert ist. Für kurze Zeit hatte ich die Hoffnung, dass meine Eltern heute, mit mehr Wissen über z.B. die Folgerisiken einer Masernerkrankung 13/17
— emmalou (@notemmalou) March 12, 2022
anders handeln würden. Aber auch heute würde ich die Impfung nicht bekommen. Als ich etwa 18 war, kam die erste HPV-Impfung auf den Markt. Horror-Geschichten über Todesfälle verbreiteten sich in der anthroposophischen Szene. Völlig verunsichert, ließ ich mir die ersten 14/17
— emmalou (@notemmalou) March 12, 2022
zwei Impfdosen verabreichen und schaffte die 3. aus zu großer Angst dann nicht mehr. Dieses Jahr werde ich sie für 160€ nachholen, wobei unklar ist, wie viel das noch helfen wird. Meine Abkehr von der #Anthroposophie hatte mit dem Studium zu tun, in dem ich Wissenschaft 15/17
— emmalou (@notemmalou) March 12, 2022
kennenlernte. Mit Freund*innen, die mich versuchten aufzuklären. Heute bin ich gegen alles geimpft, was möglich und sinnvoll ist. Aber es hat eine ganze Weile gedauert. Das Misstrauen gegen alles „chemische“ saß ziemlich tief. Und die Gewohnheiten waren manchmal stärker 16/17
— emmalou (@notemmalou) March 12, 2022
als der Verstand. Manche homöopathischen Mittelchen nahm ich noch, als mir schon klar war, dass sie nicht wirken. Die „Kügelchen“, an die man glauben muss, waren so viele Jahre mein einziger – wenn auch scheinbarer – Schutz gegen Krankheiten gewesen. 17/17
— emmalou (@notemmalou) March 12, 2022
So reagieren andere User*innen:
Es ist natürlich unmöglich, das Leid zu beziffern, das durch gut gemeinte, aber pseudowissenschaftliche „Behandlungen“ verursacht wurde und wird. Doch in Anbetracht des medizinischen Standards hierzulande ist jede Person, die sich in Folge fehlender sachgemäßer Medizin quälen muss und dabei noch von obskuren „Alternativbehandler*innen“ ausgebeutet wird, zu viel. Umso wichtiger ist es, dass Betroffene ihre Geschichte erzählen, denn leider ist @notemmalou mit ihren Erfahrungen nicht allein. Wir haben wie üblich ein paar wichtige Kommentare für euch zusammengefasst.
Ja, all das kenne ich auch. Meine Eltern erzählen bis heute mit einem gewissen Stolz, dass ich bei meiner Masernerkrankung 2 Wochen nur im Dunklen saß.
Der KiA meiner Kinder erklärte mir, dass wäre ein Anzeichen einer Hirnhautentzündung.
Ich habe vor allem durch meine //
— ninimeta 🧡 (@nini_meta) March 13, 2022
medizinische Ausbildung verstanden, dass das totaler Humbug war und kein Kind Erkrankungen zur Entwicklung braucht.
Meine Eltern haben das mittlerweile auch erkannt und sind auch gegen alle geimpft.
— ninimeta 🧡 (@nini_meta) March 13, 2022
Was für ein völlig sinnloser Leidensweg und bei all dem esoterischen Unsinn wollten die Eltern trotzdem nur das Beste.
Hier hilft nur Aufklärung und das Zulassen von wissenschaftlichen Erkenntnissen.— Bettina Frank (@FrankBettina) March 12, 2022
Wahnsinn! Toll, dass du es geschafft hast, diesen tief eingepflanzten Unsinn durch Vernunft zu besiegen, das ist nicht einfach und schaffen nicht viele. Oft sind Menschen nach so einer Erziehung Rationalität und Logik gegenüber in vielen Bereichen ein Leben lang immun…
— Der Notfallhausarzt (@niemandmagmusik) March 13, 2022
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