Thread: Über meine Angst
In diesem Beitrag soll es um unsere und eure mentale Gesundheit gehen. Denn ob Corona, Klimakrise oder einem drohenden dritten Weltkrieg, in letzter Zeit sahen sich die meisten von uns sehr vielen Sorgen ausgeliefert. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen und muss nicht zwingend große Ereignisse umfassen. Manchmal sind es auch nur Sorgen des Alltags oder seiner eigenen Existenz. Sich zu sorgen ist erstmal per se nichts Schlechtes. Bedenklich wird es erst, wenn diese in unserer Gedankenwelt die Überhand gewinnen und unsere Grundstimmung beherrschen. So können sie zum Beispiel die Ursache für Depressionen oder psychosomatische Beschwerden sein.
Aus Sorgen können sich aber auch sehr leicht handfeste Ängste entwickeln, die nicht nur Auswirkungen auf unsere Psyche, sondern auch direkt auf unseren Körper haben. Denn wenn das Szenario im Kopf plötzlich zur ernsthaften Bedrohung wird, greifen unsere Urinstinkte, die seit Jahrmillionen das Überleben der Menschheit sichern. Sollte die Angst bereits die Oberhand und einen negativen Einfluss auf euren Alltag haben, so empfiehlt es sich, auf jeden Fall professionelle Hilfe zu suchen. Damit es gar nicht erst so weit kommt, gibt es eine Reihe an Möglichkeiten, mit seinen Sorgen umzugehen. Der Kinderpsychiater @KJPGehrden hat in dem nun folgenden Thread beschrieben, wie er seine Sorgen und Ängste in Schach hält. Vielleicht hilft das einigen von euch.
Ich entscheide mich gegen die Angst – gegen die Angst, morgen früh in einem Inferno aufzuwachen.
Ein kurzer Thread über meine Angst.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) February 28, 2022
Ich entscheide mich gegen die Angst: Gegen die Angst, ins Auto oder aufs Fahrrad zu steigen und loszufahren, wohlwissend, dass Tausende jedes Jahr damit ihr Leben verlieren und noch viel mehr schwer verletzt werden. Ich fahre einfach los und genieße es, und das ist richtig so.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) February 28, 2022
Ich entscheide mich gegen die Angst: gegen die Angst vor dem Einschlafen, dass man mich morgens tot im Bett findet, nach plötzlichem Herztod, Aneurysmablutung, Lungenembolie. Diese Dinge passieren gar nicht mal so selten, doch ich schlafe gut.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) February 28, 2022
Ich entschied mich gegen die Angst: die Angst, meine Kinder in den Arm zu nehmen, mit ihnen zu kuscheln und zu flüstern, als es (vor den Impfungen) zahlreiche Fälle von Eltern gab, die sich bei ihren Kindern per Schule / Kita ansteckten, schwer krank wurden und verstarben.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) February 28, 2022
Ich entschied mich gegen die Angst: die Angst vor einem unbekannten Impfstoff, den vor mir nicht besonders viel Menschen bekommen hatten. Ich vertraute auf den Impfstoff und die Menschen, die dahinter standen. Es geht mir gut damit.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) February 28, 2022
Ich entschied mich gegen die Angst, als ich durchnässt durch das sehr schwere Gewitter über unseren Köpfen lief, um für Familie und Passanten ein Auto zu holen. Blitze schlugen tatsächlich ein, aber mir ging es gut. Ich rannte wie der Teufel, weil es nötig war.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) February 28, 2022
Ich entscheide mich gegen die Angst: In beruflichem Kontakt mit suizidalen oder hochaggressiven Patienten. So gelingt es, ihre Krisen mit auszuhalten, einen Draht zu finden, sie zu begleiten, vielleicht auch Heilung zu ermöglichen. Es ist gut so, der einzige richtige Weg für mich
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) February 28, 2022
Ich entscheide mich gegen die Angst, wenn mir eines meiner Kinder von einem ungewöhnlichen Symptom berichtet und ich weiß, dass eins von 500 Kindern bis zur Jugend eine Krebserkrankung bekommt. Ich bleibe entspannt, warte ab, beruhige mein Kind. Das ist der richtige Weg.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) February 28, 2022
Ich entscheide mich gegen die Angst: die Angst, dass ein Verrückter plötzlich einen weltweiten Vernichtungskrieg triggert, und eine Rakete, von Abfangsystemen nicht gestoppt, ausgerechnet die Stadt trifft, in der ich lebe.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) February 28, 2022
Natürlich können viele entsetzliche Dinge passieren, und auch ein Atomkrieg, den man überlebt, ist eine nie dagewesene Tragödie der Menschheit. Doch meine Angst ist hier schlicht. Sie fragt: „Wirst du mit deiner Familie überleben?“ und ich sage: „Ja.“
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) February 28, 2022
Ich entscheide mich auch zu vertrauen: Ich vertraue den Menschen. Einzelnen bösen Menschen natürlich nicht, aber der Weltgemeinschaft. Ich vertraue darauf, dass sich die Welt nicht auslöscht, dass in Zeiten der Not kluge, feinsinnige Menschen die richtigen Entscheidungen treffen.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) February 28, 2022
Das Vertrauen in die Menschen musste ich mühevoll lernen, es war ein langer Weg. Aber jetzt ist es da, auch weil ich es mir erlaube. Wie sieht es bei Ihnen mit dem Vertrauen aus? Erlauben Sie es sich? Zweifeln Sie? Misstrauen Sie? Fühlt es sich richtig an?
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) February 28, 2022
Es ist möglich, mit dauerhafter Angst umzugehen und trotzdem gut zu leben (dies wissen viele Menschen mit chronischer Angstsymptomatik). Dies ist der Zeitpunkt, es zu probieren: nicht zu verzagen, sondern zu vertrauen, dass die Menschheit es packt. Ich steuere Zuversicht bei.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) February 28, 2022
Das sagen andere User:
Dieser Text hat Mut gemacht, oder? Wir fanden ihn jedenfalls aufbauend und hilfreich. Was die Leserinnen und Leser dieses Threads dazu zu sagen hatten, wollen wir euch natürlich nicht vorenthalten. Ein paar der treffendsten Reaktionen und Kommentare haben wir hier für euch gesammelt.
Interessanter Thread. Ich beobachte, dass Corona bei mir ordentlich Vertrauen gekostet hat, das aber Ukraine zwar Angst macht, aber bisher zumindest eher Vertrauen gewinnen lässt.
— ♥️Michel Kangro 🇪🇺 (@mideg) February 28, 2022
Ich danke Dir für Deine offenen und mutmachenden Worte! 🙏❤️
Ich gebe zu, ich habe Angst. Aber sie lähmt mich nicht! Ich mache meine Arbeit, eher lässt sie mich alles bewusster tun.— KinderdocNina🌈💙💛 (@KinderdocNina) February 28, 2022
Vielen Dank für diesen Thread. Er ordnet meine Gedanken wieder ein Stück gerader und lässt mich besser einordnen. Ich denke man muss auch sich selbst vertrauen das Richtige zu machen in Krisensituationen.
— 🇺🇦☮️🌍Gemini 💉💉💉 (@AsCeJa) February 28, 2022
Ich bin von einer sehr ängstlichen Mutter großgezogen worden und kämpfe oft mit meiner Angst.
Erst für meine Kinder war u bin ich in der Lage, mich öfter bewusst gegen die Angst zu entscheiden.Danke für diesen eindrücklichen Text! Genau so fühlt es sich an.
— Momof2andahalf (@momof2andahalf) February 28, 2022
Danke. Und sei es, um zu verstehen, dass Angst ebenso irrational ist, wie die Entscheidung dagegen. Nur vielleicht mit mehr Licht am Ende der Nacht.
— La_Levatrice (@La_Levatrice) February 28, 2022
Ich dachte, meine schlimmste Angst wären die Folgen der sich verschärfenden #Klimakrise … Und dann kommt Putin und will ein russisches Großreich zusammen“krieg“en und droht damit alles in die Luft zu jagen und zu verseuchen… #PutinIsaWarCriminal
— Mariselja 🌍🌡🌪⌛Ⓥ (@mariselja) February 28, 2022
Ich merke mein Resilienzeimer ist ziemlich leer, nach zwei Horrorjahren, und trotzdem entscheide ich mich immer wieder gegen die Angst. Es dauert nur etwas länger. Danke fürs daran Erinnern.
— annton beate schmidt (@tinyfishbowl) February 28, 2022
Danke für diese Gedanken. Ich habe unglaubliche Angst, sie lähmt mich und macht mich körperlich krank.
Alleine ist kein Licht zu finden, ich suche mir Hilfe.— Rabaukenmama_vom_Dorf (@RabaukenmamaD) February 28, 2022
— Birgit (@BirgitM123) February 28, 2022
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit. Um das Thema Angst geht es auch in diesem Beitrag hier: