Thread: Sie hatte das Essen nicht rechtzeitig serviert
Triggerwarnung: Dieser Beitrag thematisiert physische und psychische Gewalt gegen Frauen.
Beim Triell der Kanzlerkandidat*innen im September vergangenen Jahres wurde Armin Laschet (CDU) gefragt, wo Frauen sich seiner Meinung nach am unsichersten fühlen. Er überlegte einen Moment und vermutete dann: „In Tunneln“. Hier geht es nicht um Armin Laschet, doch seine Antwort lässt tief blicken. Gewalt gegen Frauen ist ein Thema, dem sich die eine Hälfte unserer Bevölkerung nur allzu bequem entziehen kann. Die andere Hälfte eben nicht. Weil es ihre Realität ist. Daheim! An eben dem Ort, wo man sich am sichersten fühlen sollte.
Um mal eine Vorstellung zu vermitteln: Häusliche Gewalt ist weltweit die am häufigsten auftretende Form von Gewalt gegen Frauen. Mindestens jede vierte Frau in Deutschland hat bereits körperliche oder sexuelle Gewalt durch einen Beziehungspartner erlebt. Statistisch wird jeden dritten Tag eine Frau in Deutschland durch ihren Partner oder Expartner ermordet. „Nur“ muss man dazu sagen, weil die Datenlage eben auch zeigt, dass täglich (!) ein solcher Femizid versucht wird. Das ist die Realität, die sich unter dem unwürdigen Euphemismus „Beziehungsdrama“ verbirgt. Und als wäre das nicht schlimm genug, bedient man sich im öffentlichen Diskurs auch noch gerne der perversen Logik der Täter-Opfer-Umkehr: Warum ist sie nicht einfach gegangen? Warum hat sie ihn nicht angezeigt? Wer solche Fragen stellt, hatte eindeutig das Glück, niemals eine toxische Beziehung am eigenen Leib erleben zu müssen. Oder ist ein Mann.
Die wichtigste Frage, die man als Außenstehende*r in einem solchen Fall stellen sollte, ist: Wie kann ich helfen? Das ist nicht leicht zu beantworten, denn die Mechanismen einer Gewaltbeziehung erschweren die Unterstützung von außen. Diese Erfahrung musste leider auch Arzt und Twitteruser @MadDocTB machen.
CN: Gewalt, Misogynie
Vor vielen Jahren habe ich als sehr junger Arzt in einem weit entfernten Land eine Frau behandelt, der ihr Ehemann in das Bein geschossen hatte. Sie hatte das Essen nicht rechtzeitig serviert.
Damals war ich entsetzt, zu welchen Handlungen Menschen in /2— MadDoc (@MadDocTB) July 12, 2022
anderen Kulturkreisen fähig waren. Vielleicht war ich damals naiv, aber so etwas war für mich bis zu dem Zeitpunkt nicht vorstellbar gewesen.
Nun haben sich viele Dinge, zumindest in meiner Wahrnehmung, auch in unserer Gesellschaft geändert.
Und was soll ich sagen … /3— MadDoc (@MadDocTB) July 12, 2022
Ich habe nun eine Frau behandelt, deren Lebensabschnittsgefährte ihr den Arm gebrochen hat, weil das Essen nicht rechtzeitig serviert war. Damit sie die Lektion auch verinnerlicht, hat er sich danach auf den gebrochenen Arm gesetzt.
Ich habe mich sehr lange mit ihr unterhalten /4— MadDoc (@MadDocTB) July 12, 2022
Dennoch ließ sie es keinesfalls zu, über Strafanzeige, Frauenhaus, Hausverbot oder sonst eine Maßnahme, die ich mir zu ihrem Schutz hätte vorstellen können einzulassen.
Meine Bitte an jeden und jede von Euch:
Schaut nicht weg. Ergreift partei und das Wort. Zeigt diesen /5— MadDoc (@MadDocTB) July 12, 2022
misshandelten Menschen, dass es einen Weg gibt und dass sie ihn nicht alleine gehen müssen!
Wenn Du selber Gewalt ausgesetzt bist oder warst: Sei Dir bewusst, dass NICHTS UND ABSOLUT GARNICHTS erklärt oder rechtfertigt diese Gewalt anzuwenden!!
/6— MadDoc (@MadDocTB) July 12, 2022
Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“:
08000 116 016Opfer-Telefon „Weißer Ring“:
116 006Sorgentelefon:
0800 / 111 0 111 oder 0800 / 111 0 222— MadDoc (@MadDocTB) July 12, 2022
Nachtrag:
Die Pol war vor Ort und stand im Nebenzimmer. Ich hab mit Engelszungen geredet, zumindest die tat aufnehmen zu lassen und evtl. später erst zu entscheiden, einen Strafantrag zu stellen … keine Chance.
Mehr geht da einfach auf keinen Fall.— MadDoc (@MadDocTB) July 13, 2022
So reagieren andere User*innen:
Danke an alle, die in einem solchen Fall nicht wegschauen! Ob das Opfer die Hilfe in Anspruch nimmt oder nicht, kann man leider nicht immer beeinflussen. Doch man kann Botschaften senden, die vielleicht eines Tages Früchte tragen: Dir geschieht Unrecht. Dein Partner verübt Gewalt an dir. Du bist nicht allein. Es gibt Hilfe. Du kannst es schaffen, aus dieser Situation herauszukommen. Dieser Meinung waren auch die meisten Twitteruserinnen und -user.
Ein „sicherer Raum“ kann eben auch bedeuten, dass das Opfer sich hier öffnen kann, ohne Folgen zu befürchten
Steht die Schweigepflicht des Arztes über der Pflicht eine Straftat anzuzeigen? Oder ist das Ermessensspielraum? Frage aus ernsthaftem Interesse.
— ⚜ Lady Vivienne Vibe$ ⚜ (@VivienneVibes) July 13, 2022
Es bedarf jedes Mal einer Abwägung. Wenn unmittelbar Gefahr droht kann und muss ich die Schweigepflicht brechen. Wenn es eine bereits begangene Tat ist und keine unmittelbare Gefahr für Leben/Gesundheit durch eine weitere Tat besteht, würde ich mich strafbar machen.
— MadDoc (@MadDocTB) July 13, 2022
Und ‚unmittelbar‘ bedeutet leider nicht, dass so eine Einschätzung wie „wird das irgendwann wohl mal wieder tun“ darunter fällt.
— MadDoc (@MadDocTB) July 13, 2022
Nicht vergessen
Und niemals aufgeben. Auch nach dem 10. Mal immer wieder ehrliche Hilfe anbieten. Nicht genervt sein „Ach, die schon wieder. Die zeigt den eh nie an“. Manchmal ist das 11. Mal das eine Mal zu viel.
Aber mit jedem Vorfall steigt die Hemmung, weil „habs doch immer zugelassen“.— Sozialhexe (@Amyrlin_) July 13, 2022
Welche Gründe auch immer die Frau hatte sich so zu entscheiden, danke das du Ihren Wunsch respektiert hast.
Ich war damals in der Situation dankbar wenn man mich, meine Entscheidungen, ernst nahm.
Informationen sind Wertvoll aber manchmal erst später nutzbar.
— Sinikka (@Sinikka38039328) July 13, 2022
Häusliche Gewalt ist überall. Wir dürfen das nicht akzeptieren. Doch wie kann man helfen, wenn das System so schlecht funktioniert?