Thread: Ich bin diensthabender Intensiv-Facharzt
Deutschland hat am vergangenen Samstag den Höhepunkt der Auslastung aller Intensivbetten seit Pandemiebeginn erreicht. Dies hatte der Leiter des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, Christian Karagiannidis auf Twitter mitgeteilt. Es steht immer weniger Personal zur Verfügung. Bereits jetzt können deutschlandweit über 500 Kliniken keine Covid-19-Patienten mehr aufnehmen. Und die Prognose ist düster. Selbst wenn es heute noch zu einem harten Lockdown käme, so würde die Zahl der Intensivpatienten noch weitere 14 Tage ansteigen, bevor eine Verbesserung der Lage in Sicht wäre. Die Politik diskutiert derweil lieber die Verhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen oder beschäftigt sich – wie im Falle der CDU/CSU – mit der Kanzlerfrage. Die volllaufenden Intensivstationen erscheinen da fast wie ein blinder Fleck, von dem man zwar gehört oder gelesen hat, der einem aber einfach nicht ins Bewusstsein will. Dabei ist die Gefahr sehr real. Corona kann jeden von uns treffen. Längst sind es nicht mehr nur alte Menschen, die intensivmedizinisch versorgt werden müssen. Der Anästhesist, Notarzt und Intensivmediziner @Caethan13 hat deswegen diesen Thread geschrieben, um zu verdeutlichen, was sich gerade in den Kliniken abspielt.
Ich bin diensthabender Intensiv-Facharzt, das Telefon klingelt:
„Hi, hier ist Paul von der ITS2. Kannst du mal vorbeikommen? Wir haben gerade nen COVID Patienten von draußen bekommen, dem geht’s richtig schlecht.“„Klar, gib mir zwei Minuten, dann komm ich rüber.“
„Zimmer 6“
— 🔴 Flow (@Caethan13) April 8, 2021
Ich trinke kurz einen Schluck, nehme mir meine Schutzbrille und laufe rüber zur Nachbarstation.
„Gut dass du da bist. Ich weiß noch gar nix über den Herren. Er war heute Morgen beim Hausarzt. Hatte vor ein paar Tagen nen positiven PCR Befund und nun ging es ihm nicht so gut.
— 🔴 Flow (@Caethan13) April 8, 2021
Der Hausarzt hat ihn direkt eingewiesen. Die Kollegin von der Notaufnahme hat ihn eben hergebracht. Die Sättigung war um 50% unter 15 Liter Sauerstoff und er hat eine Atemfrequenz von 40. Gerade bekommt er NIV.“
Ich schaue durch das Glasfenster…
— 🔴 Flow (@Caethan13) April 8, 2021
Der Patient sitzt aufrecht im Bett während ihm die Beatmungsmaske umgeschnallt wird. Er schaut angestrengt aus. Die Kollegin von der ZNA versucht gerade einen arteriellen Zugang zu legen. Ich schaue auf das Patientenblatt:
63 Jahre alt, noch nie bei uns im Krankenhaus gewesen.— 🔴 Flow (@Caethan13) April 8, 2021
„Ich geh mal besser gleich rein.“
Ich schnappe mir eine FFP3-Maske und gehe zu dem Patienten. Trotz 80% Sauerstoff und hohen Unterstützungsdrücken hat er immer noch eine Atemfrequenz von über 30 (normal ist etwa die Hälfte). Auf den ersten Blick sieht er gar nicht so krank aus.
— 🔴 Flow (@Caethan13) April 8, 2021
Ein stämmiger und muskulöser Herr mit einem schicken Karohemd und Anzugschuhen. Nur die Gesichtsfarbe wirkt fahl und bläulich und er ist klatschnassgeschwitzt, obwohl es im draußen noch kühl ist und die Klimaanlage den Raum auf angenehme 22 Grad aufheizt.
— 🔴 Flow (@Caethan13) April 8, 2021
„Ich glaube das mit dem NIV schafft er nicht.“
Ich versuche Kontakt aufzunehmen, doch der Mann schaut mich nur ängstlich an, zum Sprechen fehlt die Luft. Selbst wenn er etwas sagen wollte, könnte ich es durch das Zischen des Beatmungsgerätes & den Alarm des Monitors nicht hören.
— 🔴 Flow (@Caethan13) April 8, 2021
„pO2 ist immer noch unter 60 und er erschöpft sich“ meint meine Kollegin, die inzwischen die Arterie gelegt hat.
„Wir werden Sie wahrscheinlich in Narkose legen müssen, damit wir ihnen beim Atmen helfen können und sie keine Atemnot mehr leiden müssen.“
— 🔴 Flow (@Caethan13) April 8, 2021
Ich versuche zuversichtlich zu wirken, obwohl ich natürlich die >50% Sterblichkeit von beatmeten COVID Patienten im Hinterkopf habe. Doch was soll man einem schwerstkranken Menschen in seinen letzten wachen Minuten für die nächsten Tage oder Wochen schon sagen?
— 🔴 Flow (@Caethan13) April 8, 2021
Er blickt mich dankbar an und nickt. Ich glaube er hat noch nicht verstanden wie krank er ist, doch ist froh, dass ihm geholfen wird.
Ich blicke nochmal auf das Beatmungsgerät. Die Atemfrequenz wird etwas langsamer, doch das liegt daran, dass die Kräfte des Patienten schwinden.
— 🔴 Flow (@Caethan13) April 8, 2021
Die Sauerstoffsättigung zeigt 80%.
„Wir müssen den Patienten intubieren. Holt bitte den Wagen.“
Glücklicherweise sind wir nach einem Jahr Pandemie ein eingespieltes Team und während die PFKs das fertig gepackte Intubationszubehör holen, lege ich noch einen zweiten Venenzugang.
— 🔴 Flow (@Caethan13) April 8, 2021
Das schicke Hemd muss ich hierzu aufschneiden, doch das scheint dem Patienten in diesem Moment egal. Selbst auf den schmerzhaften Stich im Unterarm reagiert er nicht einmal mehr mit einem Zucken. Wir müssen uns beeilen.
— 🔴 Flow (@Caethan13) April 8, 2021
„Ich muss Ihnen die Maske jetzt richtig fest auf’s Gesicht drücken“ erkläre ich trotzdem und stelle den Sauerstoff auf 100%. „Seid ihr soweit?“
Wir gehen nochmal kurz die Intubationscheckliste durch und ich prüfe die Medikamente. Das Beatmungsgerät und die Absaugung zischen laut.— 🔴 Flow (@Caethan13) April 8, 2021
Der Intensivmonitor alarmiert immer wieder „SÄTTIGUNG NIEDRIG“.
Es ist ein ohrenbetäubender Lärm und durch Faceshield und FFP3-Masken ist eine Kommunikation fast unmöglich. Doch wie gesagt, wir sind ein eingespieltes Team und brauchen wenig Worte.— 🔴 Flow (@Caethan13) April 8, 2021
Die Narkosemedikamente werden gespritzt und der Mann wird ruhiger, bis die Atmung schließlich ganz aussetzt. Hätte ich nicht den kräftigen Puls unter meiner Hand und das EKG am Monitor, könnte man meinen er wäre schon tot, so fahl und grau wie er aussieht.
— 🔴 Flow (@Caethan13) April 8, 2021
Die Intubation gelingt problemlos und die Sauerstoffsättigung erholt sich langsam und unter hohen Beatmungsdrücken auf ein akzeptables Niveau.
Die Computertomographie der Lunge schaut genauso schlimm aus wie wir es uns gedacht haben.
— 🔴 Flow (@Caethan13) April 8, 2021
Zwischen den weißen Milchglas-Veränderungen sind nur noch kleine Flecken gesunder Lunge erkennbar. Nach erledigter Erstversorgung widme ich mich wieder meinen Patienten auf der Nachbarstation, während mein Kollege Paul die Angehörigen verständigt.
— 🔴 Flow (@Caethan13) April 8, 2021
„Wir mussten ihren Mann leider auf unsere Intensivstation aufnehmen. Er ist beatmet und liegt im Koma. Es geht ihm leider sehr schlecht…“
— 🔴 Flow (@Caethan13) April 8, 2021
Kleine Anmerkung: Das war nicht gestern oder heute und Details sind verfremdet aber ansonsten habe ich mich bemüht, das ganze möglichst realistisch wiederzugeben. Der geschilderte Fall ist an sich nichts besonderes, so oder ähnlich hab ich das jetzt schon dutzende Male mitgemacht
— 🔴 Flow (@Caethan13) April 8, 2021
Mal dramatischer, mal ruhiger. Meistens mit relativ schlechtem Outcome für den Patienten.
Alltag auf der Intensivstation in einer Pandemie aber eben doch etwas an das man sich nie so richtig gewöhnt…
— 🔴 Flow (@Caethan13) April 8, 2021
Jetzt muss ich nochmal ein Danke loswerden. Mehr als 1 Mio Mal haben Menschen diesen Thread in ihre Timeline bekommen und ca 200.000 haben sich tatsächlich die Geschichte durchgelesen.
Danke für’s zuhören. Ich wünschte mir nur, die wenigen Entscheidungsträger würden das auch tun.— 🔴 Flow (@Caethan13) April 9, 2021
Das sagen andere User:
Neben vielen Dankesworten für seinen Einsatz und den Einblick in seine Arbeit, sammeln sich unter dem Thread auch viele empörte Kommentare, die sich nicht an den Autor richten. Mediziner und Experten warnen seit Wochen vor einer Überlastung des Gesundheitssystems. Die Fassungslosigkeit beruht auf der Tatsache, dass sich seit der gescheiterten Osterruhe von Angela Merkel (CDU) nichts weiter getan hat. Die Bundesländer zeigen sich weiter uneinsichtig und warten nun auf die Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes, während das Virus immer mehr Menschen befällt. Einige Kollegen aus dem medizinischen Bereich bestätigen zudem die kritische Situation auf den Intensivstationen. Wir haben ein paar der treffendsten Kommentare zum Thread für euch zusammengetragen.
Das ist eine erschreckende und beklemmende Schilderung einer Situation, die man erstmal wirken lassen muss.
Diese Ereignisse sind furchtbar für den Patienten, die Angehörigen, aber auch das medizinische Personal. Egal wie professionell man arbeitet, man ist kein Roboter!— ArbmedNurse (@ArbmedNurse) April 8, 2021
Danke für die verständliche Schilderung. Als Pflegekraft in einem Altenheim habe ich davon leider nicht viel Ahnung. Leider werden solche Threads meist nur von Leuten gelesen, welche sich für die Thematik interessieren und nicht von den Idioten für die Corona nur eine Grippe ist!
— 🔴🔴 Thomas Gehring 💉😷 (@gehring) April 8, 2021
Danke für die Schilderung ich kann es nicht mit worten ausdrücken wie dankbar ich bin das ihr diese arbeit macht in diesen schwierigen Zeiten . Danke
— Dietrinity1234 (@dietrinity1234) April 8, 2021
Schön geschrieben! Sie haben die rasante Dynamik, die medizinische Dramatik & die professionelle Reaktion des Teams eingefangen. Die Einzelschicksale verschwinden hinter Zahlen. Die Teams in Krankenhäusern versuchen zu retten, wen immer sie können. Und die Politik redet…..
— AlexMathis🔴🔴🔴 (@SeiMa_Nichso) April 8, 2021
DANKE für deinen/euren Einsatz!
Auch wenn euch das nichts bringt, aber ich wollte irgendwie meine Wertschätzung in der immer noch zu schwer erträglichen Zeit ausdrücken.— Lena!!1elf (@L_M_58) April 8, 2021
Schön, dass ihr bis zum Ende geblieben seid. Wir haben hier noch einen kleinen TV-Tipp für euch, falls ihr mehr zu dem Thema wissen wollt. Wie der Alltag und die Herausforderungen für Ärzte und Pflegepersonal auf einer Intensivstation aussieht, zeigt nun eine vierteilige Dokumentationsreihe des rbb. Der Regisseur Carl Gierstorfer hat diese von Weihnachten 2020 bis Mitte März in Berlin auf Station 43 der Charité gedreht. Dort werden Patienten mit COVID-19 behandelt, die besonders schwer erkrankt sind. Der erste Teil der Reihe wird am 14. April um 21 Uhr im rbb ausgestrahlt. Alle weiteren Teile jeweils eine Woche später. Natürlich werden diese auch in der Mediathek verfügbar sein. Eine weitere packende Reportage „Auf der Covid-Intensivstation der Charité – Kampf um jeden Atemzug“ ist bereits in der ARD-Mediathek verfügbar. Und wenn ihr noch einen Thread zu dem Thema lesen wollt, probiert es doch mal mit diesem hier: