Thread: Ein Brief an Friedrich Merz
Der eine oder andere hat es vielleicht mitbekommen, Friedrich Merz (CDU) hat mal wieder einen Sturm der Empörung ausgelöst. Nein, diesmal ging es weder ums Gendern noch um Atomkraftwerke oder Sexismus. Diesmal warf er ukrainischen Geflüchteten »Sozialtourismus« nach Deutschland vor. Ein Begriff, den einst die NPD geprägt hat und der 2013 zum Unwort des Jahres gewählt wurde. Auf BILD-TV behauptete der Vorsitzende der Union, die Geflüchteten würden unser Sozialsystem ausnutzen und zwischen Deutschland und der Ukraine hin und her pendeln.
Kurz darauf wiederholte er diese Aussage noch einmal auf seinem Twitteraccount. Belege für seine wilde These lieferte er freilich keine, es blieb eine reine Stammtisch-Anekdote, zu der es vor allem aus den Reihen der AfD viel Applaus gab. Der Rest der Republik ließ das jedoch nicht auf sich sitzen. Und so kam es, dass er nach dem entsprechenden Gegenwind seine Tweets löschte und mit einer klassischen Nonpology zurückruderte. Seine Kritiker sehen darin eine strategisch geplante Eskalation (inklusive der halbgaren Entschuldigung), um durch die Diskursverschiebung nach rechts an die AfD verlorene Wählerstimmen zurückzugewinnen. Dass er mit seinen Worten auf die Lebensrealität der Ukrainerinnen und Ukrainer, die vor dem Krieg geflohen sind, – salopp gesprochen – gespuckt hat, wollen wir euch mit dem nun folgenden Thread verdeutlichen. Dafür erteilen wir der Twitteruserin @aennchen2000 das Wort.
Lieber @_FriedrichMerz, seit April wohnt Anastasiia bei mir. Sie ist 20 und kam alleine ohne ihre Familie aus Kyiv nach Berlin. Seit dem kann ich die Male nicht mehr aufzählen, in denen sie absolut verzweifelt war. Ein 🧵#SozialTourismus
— Anna Leners (@aennchen2000) September 26, 2022
Weil sie ihre Familie vermisst. Weil sie nicht weiß, wie ihre Zukunft in 🇺🇦 aussehen soll, weil ihr Heimatland zerstört ist. Weil sie Angst hat, zurück in ein Kriegsland zu müssen. Weil die Ämter hier wo sie Unterstützung bekommen sollte fast alle nur auf Deutsch kommunizieren.
— Anna Leners (@aennchen2000) September 26, 2022
Weil diese Ämter Informationen falsch weitergeben, verschweigen oder Dokumente fordern, die für sie fast nicht zu bekommen sind (zb Immatrikulationsbescheinigung ihrer Uni in Kyiv) und sich so die Unterstützung die ihr rechtlich zusteht ständig verzögert hat.
— Anna Leners (@aennchen2000) September 26, 2022
Sie hat aus der Ferne verfolgt, wie eine Rakete knapp neben der Wohnung ihrer Eltern eingeschlagen ist. Sie wollte zurück zu ihren Eltern und gleichzeitig hatten Sie und ihre Eltern Angst dass es zu gefährlich ist. Sie weiß nicht, wie ihre Zukunft in der Ukraine aussehen soll.
— Anna Leners (@aennchen2000) September 26, 2022
Nun hat sie sich endlich getraut für eine Woche zu ihrer Familie zu fahren. Die sie so sehr vermisst und um die sie die ganze Zeit Angst hatte. Und trotzdem hatte sie Angst, in die Ukraine zu fahren. Ich bin mir sicher, Geschichten wie ihre gibt es hunderttausendfach.
— Anna Leners (@aennchen2000) September 26, 2022
In so einer Situation von #Sozialtourismus zu sprechen um Stimmung zu machen und zu versuchen, politisch Profit daraus zu schöpfen ist Menschenverachtend, ekelhaft und verachtenswert
— Anna Leners (@aennchen2000) September 26, 2022
Wow, bin etwas überwältigt über die Rückmeldungen hier! Leider komme ich gerade nicht hinterher die ganzen Drukos zu moderieren deswegen ändere ich die Antwortmöglichkeiten, da sich leider einige rechte Trolle unter diesem Tweet verirrt haben. Bleibt solidarisch 🫶
— Anna Leners (@aennchen2000) September 27, 2022
Anastasiia ist auch überwältigt von den Rückmeldungen hier ❤️ Sie hat mich gebeten, eine kleine Sache zu korrigieren: die Rakete ist neben dem Haus von Onkel & Tante eingeschlagen. Im Wohnhaus ihrer Eltern ist die Rakete ca. 2 Meter über dem 26-Stöckigen Gebäude vorbei geflogen
— Anna Leners (@aennchen2000) September 27, 2022
Das sagen andere User:
Einfach nur unterirdisch, oder? Und weil die Behauptung so hohe Wellen geschlagen hat, gibt es an dieser Stelle mal nicht die Reaktionen der Leserinnen und Leser auf den Thread, sondern wir zeigen euch stattdessen die treffendsten Tweets und Kommentare zu seiner Aussage.
Wer mit betroffenem Gesicht und gesalbten Worten nach Kiew fährt und zuhause gleichzeitig von ukrainischem Asyltourismus spricht, nur, um kurz vor einer Landtagswahl am Rand noch ein paar Stimmen abzugreifen, ist vieles, aber weder glaubwürdig noch fähig zu führen. #Merz
— Marie-Agnes Strack-Zimmermann (@MAStrackZi) September 27, 2022
Empathielosigkeit wird übrigens in Merz gemessen.
— Anna Becker (@lovinurbanism) September 27, 2022
Als jemand, der jetzt über 6 Monate die eigene Wohnung mit Ukrainischen Flüchtlingen geteilt hat, bin ich angewidert von der Aussage von @_FriedrichMerz. #SozialTourismus #Ukraine
— Thomas Möhle (@tmoehle) September 27, 2022
Wer einmal #Sozialtourismus sagt, wird es wieder sagen.
Weil er es denkt.
Und wer so denkt, wird nicht Kanzler der Bundesrepublik.
Stimmungsmache auf dem Rücken von Geflüchteten funktioniert in Deutschland für bestimmte Gruppen. Aber nicht für die Mehrheit der Gesellschaft.
— Sven Lehmann (@svenlehmann) September 27, 2022
Russlands staatliche Nachrichtenagentur #TASS meldet: "Deutscher Oppositionsführer wirft Flüchtlingen aus der Ukraine 'Sozialtourismus' vor." #Merz hat mit seiner Behauptung nicht nur Rechtspopulismus, sondern auch Putins Propaganda gefüttert.
— Johannes Hillje (@JHillje) September 27, 2022
In der Ukraine herrscht ein furchtbarer Krieg! Das Gequatsche vom #Sozialtourismus zerstört den gesellschaftlichen Zusammenhalt, den wir bislang bei der Unterstützung der 🇺🇦 + der Aufnahme von Geflüchteten hatten. Wer so etwas sagt, hat null Verantwortungsbewusstsein + Empathie.
— Michael Roth MdB 🇪🇺🇺🇦 (@MiRo_SPD) September 27, 2022
#CDU-Chef #Merz ist wieder ein PR-Coup gelungen: Mit dem #NPD-Begriff #Sozialtourismus hetzte er mit Fake gegen #Geflüchtete, wie nach Drehbuch kam heute sein Zurückrudern. Unsere Analyse der Strategie hinter Merz' gezielter Provokation & der Faktencheck. https://t.co/YcZnSUn7tA
— Volksverpetzer (@Volksverpetzer) September 27, 2022
Friedrich Merz ist die Art von Mensch, die auf der Titanic Kinder und Schwangere ins Wasser geschubst haben, um ins erste Rettungsboot zu kommen.
— Pippi Punkstrumpf (@PPunkstrumpf) September 27, 2022
Als #Merz merkt, dass #Sozialtourismus nicht gut ankommt, folgt nach Drehbuch die non-apology. In ein paar Tagen redet keiner mehr darüber. Merz weiß wieder mehr wie weit nach rechts er laufen kann. Und zeitgleich ist der Diskurs wieder einen mm in der Öffentlichkeit verschoben.
— RA'in Nina Diercks 🇪🇺 (@RAinDiercks) September 27, 2022
Fragt man in der AfD, wie man Merz‘ Sozialtourismus-Aussage strategisch empfindet, spricht man mit 2 Lagern.
Lesart 1: „Sagen wir schon lange. Schade, dass er eingeknickt ist.“ Lesart 2: „Hilft uns in Niedersachsen. Warum sollen die Leute CDU wählen, wenn sie uns haben können?“
— Nicole Diekmann (@nicolediekmann) September 28, 2022
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Passend dazu hätten wir noch das: