Der bislang längste Streik der Pflegekräfte in den Unikliniken NRW ist beendet. Vorgestern Nacht akzeptierte die Ver.di-Tarifkommission ein entsprechendes Eckpunktepapier, das schrittweise ab dem 1. Januar 2023 umgesetzt werden soll. Es ist der erste Flächentarifvertrag für Entlastungen an Krankenhäusern in Deutschland. Darin enthalten sind zum Beispiel ein besserer Personalschlüssel für alle patientennahen Bereiche und eine schichtgenaue Belastungsmessung mit Entlastungstagen oder finanziellem Ausgleich. Ob diese Veränderungen reichen, um eine Zeitwende in unserem angeschlagenen Gesundheitssystem zu schaffen, muss sich erst noch zeigen. In dem nun folgenden Thread soll es aber nicht so sehr um den Streik gehen, sondern um den Weg, der dahin führte. Oftmals wurde nämlich argumentiert, Corona hätte nichts mit dem desolaten Zustand an den Kliniken zu tun. Der Twitteruser und Intensivmediziner @narkosedoc räumt mit diesem Märchen ein für alle Mal auf und erklärt sehr anschaulich, welche Probleme in der Pflege langfristig gelöst werden müssen. Aber am besten macht ihr euch selbst ein Bild.
Können wir mal eine Sache endgültig klären?
Corona und die Belastung und Überlastung in den Kliniken.
Sobald irgendein Arzt/Ärztin/Pflegekraft Überlastungen schildert kommt ein Dullie daher und sagt „Ja, aber das hat ja mit Corona nichts zu tun!“
Ein Thread. Für Euch.— Intensivdoc (@narkosedoc) July 9, 2022
Corona ist seit Monaten kein entscheidender Faktor mehr auf unseren Intensivstationen. Es gibt immer mal wieder Patient*innen, aber die große Welle an Schwerstkranken, Bauchliegern und Toten ist vorbei. Das Virus hat sich verändert, die Impfungen wirken. Glück gehabt.
— Intensivdoc (@narkosedoc) July 9, 2022
Wenn wir jetzt sagen, wir können nicht mehr, wir sind am Limit – dann hat das trotzdem was mit Corona zu tun.
Das Gesundheitssystem wurde seit 20 Jahren auf Effizienz getrimmt, Dienstpläne auf Kante genäht und in vielen Teilen auch kaputt gespart.— Intensivdoc (@narkosedoc) July 9, 2022
Dienstpläne funktionierten nur, weil ständig Leute eingesprungen sind. Seit Jahren hatten alle Kliniken hier offene Stellen, die sie nicht mehr nachbesetzt bekamen. Disqualifizierendes Fehlverhalten blieb ohne Konsequenz, weil man nicht noch mehr offene Stellen haben wollte.
— Intensivdoc (@narkosedoc) July 9, 2022
Es wurden deshalb früh Kolleg*innen angeworgen, deren Sprachkenntnisse oft so schlecht waren, dass selbst eine basale Verständigung nur sehr erschwert möglich war. Dabei gab es viel Potenzial für Missverständnisse – sowohl unter Kolleg*innen als auch mit den Patienten.
— Intensivdoc (@narkosedoc) July 9, 2022
Trotz dieser Notfallmaßnahmen gab es sowohl in der fachlichen Qualität, als auch in der Personaldecke vor etwa 5 Jahren merkliche Einrisse – ohne, dass ich es an einem bestimmten Ereignis hätte festmachen können.
— Intensivdoc (@narkosedoc) July 9, 2022
Vor der Pandemie war vieles schwierig, aber man hatte irgendwie die Hoffnung, dass sich vielleicht nochmal was ändert.
Dann kam die Pandemie und die, die innerlich schon länger gehadert hatten, sind abgesprungen.— Intensivdoc (@narkosedoc) July 9, 2022
Es war so unfassbar viel und anstrengende und auch demotivierende Arbeit, wie wir sie alle noch nie erlebt haben. Die Leute starben reihenweise, egal wie viel wir investierten.
Wer gehen konnte, ging.
Seitens der Klinik wurde nicht mal versucht die Leute zu halten.— Intensivdoc (@narkosedoc) July 9, 2022
Es gab auch nie wirkliche Anreize Kolleg*innen durch echte Prämien (3000€ wer 24 Monate bleibt usw.) zurück zu gewinnen.
Und das vorher schon marode System der Notfall- und Intensivmedizin wurde durch Corona wie mit einem Brandbeschleuniger übergossen und endgültig zerstört.— Intensivdoc (@narkosedoc) July 9, 2022
Corona war also einer der Hauptgründe für die aktuellen Probleme, aber nicht der einzige Grund. Corona traf auf ein vorbeschädigtes System und gab ihm den Rest.
Und Corona beschäftigt uns auch immer noch – aber anders. Kaum noch durch die Schwerkranken, aber im Alltag.— Intensivdoc (@narkosedoc) July 9, 2022
Aufwändige Hygienemaßnahmen, ständige Tests, durchgängig FFP2, oft anstrengedes Arbeiten unter PSA mit viel Plastik und wenig Atmungsaktivität und auch durch kranke Mitarbeiter*innen, die riesige Löcher in ein ohnehin rissiges Dienstplansystem reißen.
— Intensivdoc (@narkosedoc) July 9, 2022
Selbst wenn Corona also heute vorbei wäre, würde das nur sehr wenig an der chronischen Überlastung ändern.
Dienstpläne werden nur noch von Woche zu Woche gemacht. Theoretisch gibt es einen Monatsplan, tatsächlich wird tagesaktuell geplant.— Intensivdoc (@narkosedoc) July 9, 2022
Selbst im Regelbetrieb haben wir mindestens 1-2 OP-Säle zu, weil nicht genug Personal da ist.
Und wir schieben jetzt schon eine gigantische Welle von zurückgestellten Elektiv-Operationen vor uns her, für die wir keine Lösung haben.— Intensivdoc (@narkosedoc) July 9, 2022
Der OP-Manager fragte letztens bei der IT an, ob man diese Zurückstellungen woanders speichern könne, sein System lade zu langsam, wenn er in die Tagesplanung geht. Normalerweise stehen da 5-10 OPs. Letztens habe ich über 200 gezählt und das sind nicht alle.
— Intensivdoc (@narkosedoc) July 9, 2022
Ihr solltet die Berichte von @schwarzbuch_k und @notruf_NRW sehr, sehr Ernst nehmen. Da riskieren Leute ihren Job, wenn rauskommt dass sie das veröffentlicht haben.
Kliniken wollen sowas nicht über sich in der Öffentlichkeit lesen und das kann ich verstehen.— Intensivdoc (@narkosedoc) July 9, 2022
Es ist wichtig, dass ihr – wir alle als Gesellschaft – verstehen, dass dies nicht das Problem einzelner Kliniken oder einzelner Abteilungen ist, sondern dass sie alle die gleichen Probleme haben. Manche schaffen es nur sich nach außen besser zu verkaufen, als andere.
— Intensivdoc (@narkosedoc) July 9, 2022
Also erspart mir bitte endlich diese ewigen Diskussionen um Corona.
Wir brauchen echte Perspektiven, eine Nachwuchsförderung die sich gewaschen hat und dann können wir in 10-20 Jahren vielleicht aufatmen. Bis dahin werden wir versuchen durchzuhalten, irgendwie.— Intensivdoc (@narkosedoc) July 9, 2022
Das sagen andere User:
Danke! Endlich erklärt mal jemand die komplexen Zusammenhänge und bringt die anzugehenden Probleme auf den Punkt. Ob der oben genannte Entlastungstarifvertrag da Abhilfe schaffen wird, können wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht beurteilen. Dafür haben wir aber ein paar der treffendsten Kommentare und Reaktionen hier für euch gesammelt:
Der ambulante Sektor ist gefühlt bei 250% Überlastung. Ohne Kontakte oder Beziehungen keine Chance.
Bei unserem Kinderarzt ist das Telefon dauerbesetzt. Man kommt einfach nicht mehr durch. Theoretisch sind die da, praktisch gibt es keine Chance auf einen Termin.— Intensivdoc (@narkosedoc) July 9, 2022
Sprich der Jengaturm wäre in den nächsten paar jahren eh zusammengebrochen, Corona hat nur mal kräftig dagegengetreten und die Sache abgekürzt. Wir brauchen eine grundlegende reform in der Gesundheitsversorgung, ob mit Corona oder ohne.
— hornswroggle (@hornswroggle1) July 9, 2022
Wir dürfen halt nur nicht den Fehler machen, es auf Corona zu verkürzen! Man muss sich schon wie Du die Mühe machen, Gesamtzusammenhänge darzustellen.
Sonst sagen uns Politiker am Ende „Nach der Pandemie wird doch alles wieder gut. Ihr müsst nur noch ein bisschen durchhalten!“— DEnniSMOPRESSIN (@DenniSge) July 9, 2022
Meine Oma kam vor der Pandemie ins Heim mit Demenz und ich hab wirklich allen Pfleger*innen ihre Mühe echt angemerkt aber wenn eine Fachkraft 20 Menschen versorgen soll……es ist alles so kaputt ey
— Boellerimsommer (@Boellerimsommer) July 10, 2022
Wäre aktuell in der Psychiatrie Luxus, war es auch vor der Pandemie, gab Stationen, die das wochenlang nicht anbieten können
— design (@designoversense) July 9, 2022
Privatisierungen und Profitstreben im Gemeinwohlsektor haben ihn kaputt gemacht.
Jetzt haben wir nur noch Kartenhäuser, die verzweifelt vor dem Einsturz bewahrt werden durch Mitarbeiter*innen, die völlig überlastet eigentlich gar nicht mehr können. #Gesundheitsbranche ist krank.— Mensch Marina (@energisch_) July 10, 2022
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Hier gibt’s mehr zum Zustand des Gesundheitssystems: