Thread: Meine erste Begegnung mit einem Reichsbürger
Laut Angaben des Innenministeriums gibt es bundesweit etwa 20.000 sogenannte Reichsbürger und Selbstverwalter. Etwa 1.000 davon werden als Rechtsextremisten eingestuft. Die Szene ist zu 75 % männlich und zwischen 40 und 60 Jahre alt. Sie besteht aus verschiedenen Gruppierungen und Einzelpersonen. Diese teilen eine fundamentale Ablehnung der Existenz oder Legitimität der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Gesetze. Lange bevor sie auf Querdenker-Protesten auftauchten, geriet die Reichsbürger-Szene immer wieder wegen ihrer Waffenaffinität in die Schlagzeilen und wird seit geraumer Zeit vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet. Wer einmal einen Reichsbürger getroffen hat, vergisst das so schnell nicht. So erging es auch dem Richter und Twitteruser @gerechtGericht, der seine Erlebnisse mit diesem besonderen Menschenschlag in dem folgenden Thread ausführlich verewigt hat.
Soll ich Euch heute von meinem 1. Mal erzählen?
Nein, keine schweinischen Gedanken, bitte!
Ich rede von meiner 1. Begegnung mit einem #Reichsbürger – einer „natürlichen Person“ zugehörig zum angeblich noch bestehenden deutschen Reich.
Habt ihr Interesse?
Na dann, los!— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Zunächst vielleicht noch einpaar Worte zur Einordnung der Begrifflichkeiten. Es gibt unzählige Arten von Reichsbürgern mit unzähligen, höchst unterschiedlichen Vorstellungen von ihrem angeblichen „Reich“.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Da gibt es welche, die sich das nationalsozialistische 3. Reich zurückwünschen oder hoffen, dass dieses nie untergegangen sei. Es gibt welche, die lediglich die völkerrechtlichen Verträge für unwirksam halten.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Es gibt aber auch Exemplare, die weiterhin von einer Besatzung durch die Alliierten ausgehen. Allen diesen fragwürdigen Gestalten ist allerdings gemein, dass sie von der fehlenden Legitimität der Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolgerin des Dritten Reiches ausgehen.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Sie wird als eine Art Vertretung der Alliierten oder alternativ auch gerne als eine GmbH gesehen. Dass dies rechtlich völlig absurd und unhaltbar ist, muss ich an dieser Stelle wohl nicht weiter betonen.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Und nun zu unserem Fall:
Nennen wir den Angeklagten, mit dem ich es zu tun hatte, aufgrund seiner Initiale mal SS. Klingt ausgedacht, war aber tatsächlich so. Die Akte kam zu mir als eine ganz normale Anklage wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und einer Urkundenfälschung.— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Es war völlig unproblematisch, dass dem Angeklagten bereits vor Jahren die Fahrerlaubnis entzogen wurde. Er wurde nun von den Polizeibeamten im Rahmen einer ganz normalen Kontrolle angehalten.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Auf deren Verlangen zeigte er ihnen allerdings seinen gefälschten Führerschein. Darüber hinaus auch noch seinen „Reichsführerschein“.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Nach der Übersendung der Anklage an den Angeklagten bekam ich sodann als allererstes eine ganz besondere schriftliche Stellungnahme, bestehend vor allem aus Auszügen aus dem NATO-Truppenstatut und dem 2 + 4-Vertrag.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Dazu kamen selbstverständlich hunderte Seiten mit völlig verrückten Aussagen zur Bundesrepublik GmbH, meiner Hörigkeit zu Frau Merkel und ähnlichem Zeugs.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Ich war noch ganz frisch im Dienst und las deswegen tatsächlich alles, was er eingegeben hatte. Es war bis zur Lächerlichkeit unverständlich und fast schon irre.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Dennoch folgte ich sogar den Literaturnachweisen, die auf mehrere, von Reichsdeutschen völlig missverstandene Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts verwiesen.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Mein Ergebnis war sehr deutlich: Der Angeklagte ist bekloppt, aber mit Sicherheit schuldfähig. Ich eröffnete das Hauptverfahren und bestimmte einen Hauptverhandlungstermin, zu dem der Angeklagte natürlich nicht erschien.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Für solche Fälle sieht die Strafprozessordnung entweder die Vorführung des Angeklagten oder den Erlass eines Haftbefehls vor. Ich entschied mich zunächst für die Vorführung als milderes Mittel, aber diese führte nicht zum Erfolg, denn der Angeklagte war nicht aufzufinden.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Daraufhin erließ ich einen Haftbefehl, der tatsächlich nach wenigen Tagen vollstreckt werden konnte, als der Angeklagte erneut ohne Fahrerlaubnis in eine Polizeikontrolle geriet.
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Der Angeklagte wurde vorgeführt, äußerte sich weder zum Vorwurf noch auf sonstige Weise und durfte sodann die Haft antreten, bis die Verhandlung stattfinden konnte.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Da zu der Verhandlung noch Polizeibeamten geladen werden mussten, verbrachte der Angeklagte daher insgesamt fast 2 Wochen in Haft.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Als es dann zur Verhandlung kam, gab er sich so wunderbar „geläutert“: Er habe eingesehen, dass er sich geirrt habe. Das mit der BRD GmbH habe er von einem Kumpel gehört. Dieser Kumpel habe ihm auch den Reichsführerschein ausgestellt und gesagt,
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
dass er auch damit durchkommen würde, weil dies ja keine Urkundenfälschung sei. Den gefälschten Führerschein habe er aus dem Internet, weil er ja habe „sichergehen“ wollen. Er sei ja überhaupt kein Reichsbürger.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Auch die Unterlagen, die er übersandt habe, habe er lediglich aus dem Internet ausgedruckt. Dies alles sei überhaupt ein Missverständnis.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Darauf angesprochen, dass er vor der angeklagten Tat – und ja auch noch einmal danach- mit entsprechendem Vorgehen aufgefallen sei und dass sich aus beigezogenen Akten der alten Verfahren ein ähnliches Muster ergebe, brach der Arme sogar in Tränen aus und schwor, sich zu bessern.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Da der Angeklagte im Übrigen ja geständig war, war die Beweisaufnahme schnell beendet und ich sprach, nach den Plädoyers der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten, mein Urteil: 10 Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Und da zeigte der Angeklagte sein wahres (ziemlich hässliches) Gesicht: Er schrie wie wahnsinnig, dass er sich von einem Angestellten dieser BRD GmbH nicht in den Knast schicken lassen werde. Er werde uns alle anzeigen.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Er werde bis zum EuGH gehen.
Er trat gegen den Tisch und ließ sich nur von den Wachtmeistern beruhigen.
Und dann machte der liebe Herr noch einen kleinen Fehler:
Er schrie, dass er nun abtauchen werde und dass er alles „auf Band“ habe.— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Dies führte zu einer sehr schnellen und unkomplizierten Einleitung eines weiteren Strafverfahrens, der Durchsuchung des Angeklagten und alsbald zu einem Antrag auf Erlass eines erneuten Haftbefehls wegen Fluchtfgefahr.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
So durfte der liebe Herr die Zeit bis zu seiner Berufungsverhandlung in der JVA verbringen, um sich weiterhin läutern zu lassen. Inwieweit diese Läuterung eintreten konnte, entzieht sich leider meiner Kenntnis.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Aber das Verfahren hinterließ bei mir einen starken Eindruck und war mir auch eine wichtige Lehre. Es wird mir nicht passieren, dass ich diese Menschen und die von ihnen ausgehende Gefahr unterschätze.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Menschen, die den Rest der Bevölkerung für „hörige Schlafschafe“ halten, die die „Wahrheit“ nicht erkennen würden, sind keine Helden, Freiheitskämpfer oder Genies, sondern gefährliche Egoisten, die in einer Welt leben, in der nur ihre Sicht der Dinge zählt.
— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Und ihre Sicht folgt ihrem Wunschdenken mehr als dem gesunden Menschenverstand.
Tja und wenn ich nun am Ende dieses Textes so darüber nachdenke, dann kommt mir diese Denkweise auch im aktuellen Pandemie-Kontext durchaus bekannt vor…— Judgement Day 💉 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) August 24, 2021
Das sagen andere User:
Tja, was soll man da noch sagen? Dumm gelaufen für den Angeklagten. Hier kommen noch ein paar Userkommentare zum Abschluss.
Ich weiß ja das solche Menschen gefährlich werden können aber wie behält man bei solchen Typen die Fassung und ist nicht nach 30 Minuten deutlichst genervt oder fängt das Lachen an?
Vor allem wenn sie dann das argumentieren anfangen.— Chris (@Chris52504251) August 24, 2021
Uff. Ich hatte das auch mal und es ging um Waffenrecht. Gänsehaut pur.
Danke für den Bericht!— Die Insel (@Max_Richter0815) August 24, 2021
Ich „kenne“ einen Reichsbürger der auf dem Vorfeld eines großen deutschen Flughafens als Sicherheitspersonal tätig ist…
Und ja, diese Leute sind _gefährlich_.
— Schnabelobst. Double shot and masked. (@Schnabelobst) August 24, 2021
Mein (nicht direkter) Nachbar ist auch einer. Weil er ebenfalls mit einem Reichsführerschein in einer Polizeikontrolle war gab es ein juristisches Hin-und Her, mit dem Resultat, dass seine Autos konfiziert wurden. Jetzt ist er meist mit einen Klapprad unterwegs.
— Francesca Oliviri 🦥 (@oliviri_brigade) August 24, 2021
Es heißt ja nicht umsonst „Führer“schein und „Personal“ausweis
— Ǝ Li Ti K Er (@Elitiker) August 24, 2021
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit. Wer mehr aus dem Richteralltag von @gerechtGericht lesen will, kann sich diesen Beitrag anschauen: