Thread: Leider scheinen sich solche Geschichten nicht oft zu wiederholen
Die deutsche Justiz fällt in den Medien oftmals nur durch Negativschlagzeilen auf. Egal ob Rechtssprechung oder Vollzugssystem, beide werden oftmals als zu lasch und ineffizient dargestellt. Dabei denken wir in Folge unseres Medienkonsums und unserer Konditionierung durch Film und Fernsehen in erster Linie an den Aspekt der Bestrafung. Gerechte, harte Strafen, um genau zu sein. Gerechtigkeit wünscht sich ja schließlich jeder, oder? Gott sei Dank besteht unsere Welt nicht nur aus schwarz und weiß – gut und böse. Resozialisierung, umgangssprachlich als „Wiedereingliederung in die Gesellschaft“ bezeichnet, ist in Deutschland nämlich auch ein wichtiger Strafzweck und Vollzugsziel. Der nun folgende Thread von @gerechtGericht zeigt, dass eben nicht alles schlecht in unserem Justizsystem läuft. Manches läuft auch richtig.
Als ich heute einen Tweet von @Nell781 las, musste ich an einen älteren Fall denken, über den ich vor über 4 Jahren zu entscheiden hatte und der mich damals in mehrfacher Hinsicht sehr berührte.
Ein kurzer Thread zu „keine Macht den Drogen“ und „Gleichheit in der Gesellschaft“.— Judgement Day 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) June 19, 2021
Nach Aktenlage handelte es sich um einen Angeklagten, der nur unwesentlich jünger war als ich damals.
Sein Bundeszentralregisterauszug war länger als „Der Zauberberg“ von Thomas Mann. Immer wieder Diebstahl, Schlägerei und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte.— Judgement Day 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) June 19, 2021
Es gab bislang viele Geldstrafen und kurze Freiheitsstrafen.
Eine Besserung war nicht ersichtlich, da die Anklage erneut einen Diebstahl und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte umfasste.Nach Aktenlektüre war ich mir irgendwie sicher, dass der junge Mann Hilfe braucht.
— Judgement Day 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) June 19, 2021
Er machte einen spannenden Eindruck: Piercings und Tattoos überall. Eine grüne Irokese. Lederklamotten. Cooler Blick.
Wir unterhielten uns zunächst über sein Leben und es hatte es in sich:
Eltern trennen sich als er 3 ist.
Er bleibt bei der Mutter, die kurz darauf stirbt.— Judgement Day 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) June 19, 2021
Vater bekommt ihn und gibt ihn in ein Heim.
Er kommt von Heim zu Pflegefamilie und wieder ins Heim und dann in ein anderes Heim. Insgesamt 5 an der Zahl.
Er beginnt früh mit Alkohol, der hier die Einstiegsdroge war.
Lange Zeit zieht er durch Deutschland und er trinkt und trinkt.— Judgement Day 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) June 19, 2021
Er arbeitet, wo gerade was gebraucht wird, um den Alkohol zu finanzieren. Lebt meist auf der Straße.
Mit 25 probiert er erstmalig Heroin und dann geht’s richtig ab. Er begeht Diebstähle, um die Drogen zu finanzieren. Kann kaum noch arbeiten.
Seine Strafen sitzt er immer ab.— Judgement Day 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) June 19, 2021
Im Gefängnis nimmt er weiter Drogen und danach geht’s immer wieder genauso weiter.
Seine Leber war zum Zeitpunkt der Verhandlung schon an mehreren Stellen verhärtet.Der Mann wirkte auf mich gebrochen. Fertig mit diesem Leben. Er wusste nicht, wohin es gehen sollte.
— Judgement Day 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) June 19, 2021
Zunächst bestritt er die Taten.
Wir führten die Beweisaufnahme durch, die sehr sehr eindeutig ausfiel.
Ich schaute ihn danach an und sagte:
„Was halten Sie davon, einfach mal Tacheles zu reden, damit wir hier eine möglichst gute Lösung finden?“
Und er machte genau das!— Judgement Day 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) June 19, 2021
Er gab alles zu. Lächelte dabei und sagte, dass er es cool finde, wie ich die Verhandlung so führe. Es sei schon lustig, dass ich überhaupt so viele Zeugen geladen hätte, obwohl alles so eindeutig gewesen sei.
Dann sprachen wir einfach über seine Zukunft. Was sollte passieren?
— Judgement Day 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) June 19, 2021
Er erzählte davon, dass er mal so gerne wegkommen würde von Drogen und von diesem Ort, von seinen „Kumpels“. Er wollte einen Neuanfang, an den er eigentlich nicht mehr glaubte.
Während wir so sprachen, bat er mich um etwas, was ich damals so noch nie gehört hatte:
— Judgement Day 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) June 19, 2021
Er bat mich um eine möglichst lange Haftstrafe ohne Bewährung.
Er brauche Zeit. Er brauche Ruhe und Abstand.Wir unterhielten uns noch recht lange über dessen Vorstellungen. Über die Therapien, die möglich seien. Die StA sicherte informell §35 BtMG zu.
— Judgement Day 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) June 19, 2021
Dann gab es die Verurteilung: 2 Jahre Haft ohne Bewährung.
Der Angeklagte wollte auf Rechtsmittel verzichten, was ihm der Verteidiger zunächst audredete.
1 Woche später bekam ich den 1. Brief vom Angeklagten. Er dankte mir und verzichtete auf Rechtsmittel.
— Judgement Day 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) June 19, 2021
Ca. 1 Jahr später kam der 2. Brief mit Dank und der Info, dass er clean sei. Er habe seinen Staplerschein.
Später erfuhr ich von der StA, dass er die anschließende Therapie erfolgreich absolviert habe.
Der 3. Brief kam erst vor ca. 1 Jahr.
Der Mann arbeite in einem Restaurant.— Judgement Day 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) June 19, 2021
Er mache eine Kochausbildung. Er sei verlobt und werde bald Vater.
Leider wiederholen sich solche Geschichten wirklich nicht oft. Aber es war mal schön zu sehen, wie es klappen kann.
Auch wenn es mal scheint, als wäre alles zu spät.Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit.
— Judgement Day 💉 ®️Moderna Improved 🌈 (@gerechtGericht) June 19, 2021
Das sagen andere User:
Das ist eine dieser Geschichten, die sprachlos macht, aber im positiven Sinn. Die meisten Leser waren, so wie wir, sichtlich gerührt. Ein bisschen Gänsehaut-Feeling war auch dabei. Aber lest selbst, was die Twitteruser dazu zu sagen hatten. Die treffendsten Kommentare haben wir hier für euch zusammengetragen.
Schöne Geschichte, die mal wieder zeigt, dass es jemand schaffen kann, wenn er wirklich will und, viel wichtiger als man oft glaubt, an die richtigen Leute gerät.
— Honde Andeleinen (@andeleinen) June 19, 2021
Diese Fälle gibt es häufiger als gedacht und sie sind der Grund, warum ich seit über 20 Jahren in der Bewährungs- und Gerichtshilfe arbeite. Nicht allen kann geholfen werden, aber jeder Einzelne ist wichtig.
— Mümmelhausen (@wallatschwarz) June 19, 2021
Wie wunderbar, dass er die Chance bekommen hat. Trotz der schlechten Prognose. Und wie absolut großartig, dass er sie ergriffen und sein Leben herumgrrissen hat. Meine Hochachtung.
— Mr. Mads 🌍 save our planet and democracy🌎 (@MrMads3) June 19, 2021
Wahrscheinlich hat er zum ersten Mal in seinem Leben echte Aufmerksamkeit erhalten.. so schlicht und so schön 😇
— Ell¡..😎..🏖 (@Purzel4ever) June 19, 2021
Ich habe Gänsehaut. Genau das ist es doch, wie es sein sollte. Jeder hat seine Geschichte. Strafe kann auch Hilfe sein. 💜
— Ähm👀 (@och_neee) June 19, 2021
… und wer einen Menschen rettet, der rettet eine ganze Welt. Danke dass du das mit uns teilst. ❤️🩹
— 🆘🆘🆘Soul_for_Sale #quattromob #KunstInDerKrise (@SoulforSale4) June 19, 2021
((♡))
Man muss clean/trocken werden wollen, einsehen dass man süchtig ist.
Und das ist vielleicht das schwerste.— Die 78. Nell🏥 (@Nell781) June 19, 2021
Solche und ähnliche Geschichten finden sich bei uns im Maßregelvollzug auch immer, gerade die nach Paragraph 64 StGB haben i. R. Genau solche biographien. Ich freu mich immer, wenn es einer geschafft hat
— Na Dine🔴🔴 (@NSpethmann) June 19, 2021
Ich finde es bemerkenswert, dass er selbst sagte, das er möglichst lange in Haft möchte um Abstand zu haben. Das zeugt m.E. von Problemeinsicht und dem Willen zum Neustart. Danke an die Beteiligten samt StA, das diesem jungen Mann ein neues Leben ermöglicht wurde.
— ChrisMausKS (@ChristianMell3) June 19, 2021
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Zur Auflockerung und Unterhaltung haben wir noch das hier für euch: