Thread: Ich habe einen Eid geschworen
Die Themen Schulöffnungen und Präsenzunterricht werden aktuell heiß diskutiert. Es ist im Ansatz nachvollziehbar, warum die Politik darauf besteht, den Regelbetrieb aufrecht zu erhalten. Es geht natürlich in erster Linie darum, dass die Eltern trotz Wellenbrecher-Shutdown alle weiterarbeiten können. Außerdem seien viele Kinder in der Schule besser aufgehoben als zu Hause, wo einem gewissen Prozentsatz häusliche Gewalt droht. Ob diese Handlungsweise richtig ist, darüber lässt sich streiten.
Überhaupt wird viel zu wenig darüber geredet, warum das Thema Luftfilter für Schulen so sträflich vernachlässigt wurde, von digitalen Homeschooling-Konzepten ganz zu schweigen. Sieben Monate hatten die Bildungsministerin des Bundes und die Kultusminister der Länder Zeit, vernünftige Konzepte zu entwickeln. Nicht mal die RKI-Vorgaben werden flächendeckend umgesetzt. Alles, was sie am Ende präsentierten, war eine Anleitung zum Stoßlüften in den Klassenräumen. Sicher, in einigen Bundesländern gibt es nun Förderprogramme, um die Schulen mit Luftfiltern auszustatten, aber bis die Mittel genehmigt und die Filter in den Schulen angekommen sind, dürfte es fast zu spät sein. Ende September waren noch 50.000 Schüler in Quarantäne, jetzt sind es schon mehr als 300.000. Tendenz steigend.
Die Lehrerin @Die_Frau_Hilde hat über die alarmierende und frustrierende Situation an den Schulen den nun folgenden Thread geschrieben.
Ich habe einen Eid geschworen. Ich bin Beamtin u mit den vielen Rechten und Vorzügen gehen damit auch Pflichten einher. Ich nehme das ernst. Ich nehme meinen Eid ernst.
Aber grad erreiche ich einen Punkt, an dem ich mich frage, ob es das wert ist.
Thread. Wütend und wirr. 1/
— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Ich möchte nicht mehr in die Einzelheiten gehen. Ihr wisst alle, was seit März hätte an Maßnahmen ergriffen werden können. Ihr wisst alle, dass nichts passiert ist.
Wir haben hingenommen, dass die Schulen nach den Sommerferien wieder geöffnet haben. 2/
— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Masken- und Abstandspflicht auf den Schulhöfen und in den Fluren sollten schützen. Dass die Kinder morgens zusammengepfercht mit den Öffis kamen, musste man so hinnehmen. Das könne man nicht ändern. Dass viele direkt nach dem Verlassen des Schulgeländes zusammengluckten, 3/
— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
sei halt so.
Die Zahlen stiegen. Wir hörten ständig nur, die Schulen seien sicher, man müsse halt lüften, und Corona werde von uns Lehrkräften in die Schulen getragen. Kinder seien ja nicht infektiös.
Das RKI sagte zwar, das Gegenteil sei der Fall, aber wer sind die schon? 4/— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Nochmal zum Mitschreiben: WIR Lehrkräfte seien also schuld, wenn Corona an der Schule aufträte.
Ich habe seit März (SEIT. MÄRZ.) niemanden mehr umarmt.
Ich habe seit März nur auf Distanz mit den Menschen Kontakt gehabt, die mir mehr als alles andere bedeuten. 5/— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Ich war dieses Jahr weder im Urlaub noch viel unter Menschen.
Ich habe nur den nötigsten Sozialkontakt persönlich gepflegt und den Großteil auf die sozialen Netzwerke verlegt.
Mir geht es dabei beschissen, weil ich ein Mensch bin, der Berührungen und Umarmungen braucht. 6/— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Aber ich habe die Notwendigkeit gesehen. Ich habe verstanden, dass dieses Verhalten sein muss, um die Ausbreitung der Pandemie zu verlangsamen.
Und jetzt kommt die KMK und wagt es zu behaupten, wir Lehrkräfte, also auch ich, trügen das Virus in die Schulen. 7/
— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Vielleicht könnt ihr euch vorstellen, wie sich das anfühlt.
Als würde man permanent für dumm verkauft.
Aber klar. Die Schulen sind ja sicher. 8/— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Wie sicher die Schulen sind, hat man dann nach den Herbstferien gemerkt, als die Zahlen erkrankter Schüler*innen und Lehrkräfte immer dramatischer anstieg.
Wenn von 900 Schüler*innen zehn an Corona erkranken, könnt ihr euch die Inzidenz gerne ausrechnen. 9/— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Was tat man?
Genau. Lüften.
Lüften, müsst ihr wissen, hilft nämlich gegen alles.
Corona, Durchfall, Migräne, Masern – alle zwanzig Minuten lüften und du bleibst gesund!Wie sicher die Schulen sind, merkte man dann auch daran, dass plötzlich Maskenpflicht herrschte 10/
— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Komisch. Dabei bekommen Kinder das doch nicht. Oder wie war das doch gleich?
Das RKI warnte weiter, und wir bekamen langsam das Gefühl, als stünde das K für Kassandra. Die hat auch immer die Wahrheit vorhergesagt, es hat ihr aber niemand geglaubt. 11/
— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Unsere KM haben nämlich behauptet, dass die Schulen sicher seien. Immer noch. Obwohl trotz des Lockdown Lights die Zahlen weiter stiegen.
Klar. Was ist ein ausgetüfteltes Hygienekonzept der Gastronomie schon gegen unser Lüftungskonzept. 12/— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Wir haben zwar immer noch zu wenig Seife und Papierhandtücher. Davon, dass die Räume an keiner Schule vorschriftsmäßig geputzt werden, fange ich gar nicht erst an.
Denn es ist ja alles sicher. Weil wir lüften ja. 13/— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Die KM machten klar, dass die Wirtschaft auf jeden Fall Priorität hat, dass jedes Kind ein Recht auf Bildung hat.
Ein Recht auf Bildung.
Das hat die letzten zwanzig Jahre keine Sau interessiert.
Aber es klingt so prima, wenn man es den Medien mantraartig vorbeten kann. 14/— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Das Recht auf Bildung sieht in Coronazeiten übrigens so aus, dass ich vorne stehe und Massenaufbewahrung in zu kalten Räumen mache. Ich kann nur Frontalunterricht machen. Wir haben zu wenig Möglichkeiten, digitalen Unterricht zu halten, deshalb gibt es keine Gruppenarbeiten 15/
— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
oder gemeinsames Arbeiten an Projekten.
Unbefriedigend für die Kinder. Unbefriedigend für die Lehrkräfte.
Entgegen dem Bild, das man von uns hat und das in Filmen nach wie vor transportiert wird, läuft Unterricht nämlich nicht so ab, dass Dr. Specht oder Zeki 16/— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Zeki Müller in den Raum wehen, mit Schwung ihre Lehrertasche auf den Tisch werfen, das Thema der Stunde an die Tafel schreiben, einen Moment dramatischer Stille in den Raum einziehen lassen und dann einen viertelstündigen Lehrervortrag halten. 17/
— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Im Moment ähnelt er diesen Szenarien allerdings schmerzhaft.
Die Pausen verbringen viele Kolleg*innen inzwischen in den Räumen. Im Lehrer*innenzimmer sitzen wir nämlich zusammengequetscht auf zu engem Raum. Die Maske muss aufbleiben und viele trinken deshalb 18/
— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
den ganzen Vormittag über nichts.
Wir verstehen die Notwendigkeit von Masken. Aber den ganzen Schultag, der überraschenderweise nicht nur von 8 bis 13 Uhr dauert, Maske zu tragen, macht Kopfschmerzen und gereizte Augen. 19/
— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Abends sitzt man dann mit Brummschädel über den Korrekturen und der Vorbereitung.
Um mich nicht falsch zu verstehen: Vor- und Nachbereitung gehört zu meinem Beruf. Ich werde dafür bezahlt.
Was mich zermürbt ist, dass ich seit Wochen nicht mehr runterkomme. 20/— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Ich habe keinen Moment des Abschaltens und der Entspannung mehr.
Ich stehe unter Dauerstrom.
Abends schaue ich nochmal in Teams rein. Gibt es wieder einen Coronafall? Muss ich für morgen etwas umorganisieren, weil Kinder fehlen? 21— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Muss ich noch Kontakt zu Eltern herstellen? Muss ich noch schnell einen Sitzplan fürs Gesundheitsamt schicken?
(Anmerkung am Rande: Um die Zahlen niedrig zu halten, sind wir Lehrkräfte Kategorie 3. Egal, wie nahe uns die Kinder kommen. Wir tragen ja Masken.) 22/— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
So wie mir geht es vielen Kolleg*innen.
Zum ersten Mal, seit ich Lehrerin bin, höre ich von nicht wenigen Kolleg*innen die Überlegung, aus dem Lehramt auszuscheiden.
Und zum ersten Mal kann ich es verstehen.Lehrerin zu sein, ist mein Traumberuf. Ich liebe die Tätigkeit. 23/
— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Ich nehme dafür in Kauf, mich ständig mit falschen und lächerlichen Vorurteilen konfrontiert zu sehen. Ich nehme in Kauf, dass ich einen Teil des Geldes, das ich verdiene, für Materialien ausgebe, die mein Arbeitgeber stellen müsste, es aber nicht tut. 24/
— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Ich nehme in Kauf, dass ich Mangel verwalte und Versagen der Bildungspolitik ausbügle.
Weil es mein Traumberuf ist.
Aber jetzt gerade, jetzt bin ich müde und stelle mir die Sinnfrage.Die KM haben anscheinend nicht begriffen, dass die Situation an Schulen kein Schwarz-Weiß ist.
— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Sie tun, als hätten wir nur die Wahl zwischen ganz offen und ganz geschlossen.
Das ist solch ein Unsinn! Es gibt hervorragende Hybridkonzepte, die man einfach nur umsetzen müsste. Aber dann müsste man ein wenig Aufwand betreiben.
Dann doch lieber lüften. 25/— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Das Leben von Lehrkräften ist ohnehin weniger wert.
Dieser Thread ist wütend und wirr. Sicher auch unsachlich.
Aber keine Einzelmeinung.
Was ich mir gewünscht habe?
Dass uns zugehört wird.
Dass wir auch mal bei Illner und Lanz sitzen und von unseren Erfahrungen berichten.— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020
Aber es scheint niemanden zu interessieren.
Deshalb schließe ich an dieser Stelle.
Eins noch.
Liebe Kultusminister*innen:
Setzen.
Sechs.27/27
— Lüftologin. RLP. (@Die_Frau_Hilde) November 13, 2020