Thread: Ein Anruf von meinem Neffen
Wer die Nachrichten noch aktiv verfolgt, kommt aus dem Kopfschütteln eigentlich gar nicht mehr heraus. Steigende Infektionszahlen, alle Bundesländer über dem Inzidenzwert 50, mehrere Landkreise über 100 und eine ziemlich düstere Prognose für die Wochen nach Ostern. Dazu eine Impfkampagne, die – nicht nur wegen des AstraZeneca-Impfstopps – so zügig vorankommt wie ein Auto auf viereckigen Rädern. In Nordrhein-Westfalen entfaltet sich gerade die absurde Lockerungspolitik zu voller Blüte. Aus der vollmundigen Ankündigung, zwei Schnelltests pro Woche für alle Schüler:innen bereitzustellen, ist plötzlich EINER in zwei Wochen geworden. Damit nicht genug, Dortmund und Duisburg dürfen ihre Schulen trotz steigender Infektionszahlen nicht schließen. Erste Schulen in NRW boykottieren nun offenbar die Vorgabe der Landesregierung, die Schulen trotz steigender Zahlen öffnen zu müssen. Aber auch in anderen Bundesländern sieht die Situation alles andere als rosig aus. Die allgemeine Stimmung in Deutschland steuert im Angesicht der dritten Infektionswelle auf einen neuen Tiefpunkt zu. Doch nicht nur die Erwachsenen sind am Ende ihrer Möglichkeiten und ihres Verständnisses für diese Politik angelangt, auch den Kindern sind die aktuelle Lage und die Gesundheitsgefahren mehr als nur bewusst. Glaubt ihr nicht? Dann lest euch mal den nun folgenden Thread der Twitteruser:in @rabenflug durch.
Anruf von meinem Neffen. Das kommt selten vor, weil er in seiner Altersphase lieber mit Büchern als Erwachsenen spricht – seine Stimme hab ich zuletzt an Weihnachten gehört.
Ich rechne also mit dem Schlimmsten.
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— Rabenflug (@rabenflug) March 13, 2021
Statt eines „Hallo“ schleudert mir ein „Wir werden verarscht“ entgegen – ein Wort, das ich aus seinem Sprachgebrauch nicht kenne – er muss also die Gefühlslage eines ausbrechenden Ätna haben
— Rabenflug (@rabenflug) March 13, 2021
Noch bevor ich nachfragen kann, was überhaupt los ist, überschüttet er mich mit dezidierten Sachinformationen zum Vergleich der Inzidenzzahlen des Landkreises, in dem er wohnt und die darüber entscheiden, ob er am Montag in die Schule gehen muss.
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— Rabenflug (@rabenflug) March 13, 2021
Eigentlich. Denn dort gibt es, so klärt er mich auf, die Regelung, dass sie geschlossen blieben, wenn die Inzidenz 5 Tage in Folge über 100 liege.
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— Rabenflug (@rabenflug) March 13, 2021
Und „eigentlich“ auch, weil die Verordnung vorsehe, dass Kinder nur dann am Unterricht teilnehmen dürften, sofern sie sich in der Schule eines Schnelltests unterzogen haben. Aber diese Teste gebe es derzeit nicht.
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— Rabenflug (@rabenflug) March 13, 2021
Ich habe also einen explodierenden Neffen am Apparat, der mir nun erklärt, dass die Inzidenz an allen Tagen der letzten Wochen in Folge zwischen 180 und 130 lag – außer am Mittwoch: da lag sie laut Statistik bei 92.
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— Rabenflug (@rabenflug) March 13, 2021
Er rechnet mir vor, warum das nicht anders zu erklären sei, als mit einem Schönen der Zahlen, um Schulen erzwungenermaßen zu öffnen – solche Themen haben weder seine Eltern noch ich je mit ihm besprochen.
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— Rabenflug (@rabenflug) March 13, 2021
Beschämt bin ich, weil sogar unsere Kinder schon begreifen, vor allem, dass sie womöglich als Mittel zum Zweck benutzt werden (wie er (!) mir erklärt) und bin noch beschämter, als er mir erzählt, dass die Frage der Schnellteste ad hoc gelöst werde.
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— Rabenflug (@rabenflug) March 13, 2021
„Gelöst“? Frage ich. „Wie denn?“
Er sagt, dass die regionale Feuerwehr einspringe und Teste zur Verfügung stelle, die sie (wie in der Zeitung gestanden habe) aus ungenutzen Vorräten des letzten Beschaffungswinters zur Verfügung stellen werden.9/
— Rabenflug (@rabenflug) March 13, 2021
ER (!) brüllt mir fast schon wütend entgegen, dass er „dem Ganzen, so, wie es abläuft“ nicht „vertraue“, denn es habe auch ein Schreiben der Schule gegeben, das beschreibt, wie diese Test ablaufen werden.
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— Rabenflug (@rabenflug) March 13, 2021
Er liest mir daraus vor: „Um den Ablauf behutsam und schmerzfrei zu gestalten, erfolge lediglich ein vorderer Nasenabstrich“. Jetzt muss ICH an mich halten, um nicht zu platzen, aber noch im Versuch höre ich seine Frage: „Du, das ist doch nicht sicher, oder?“
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— Rabenflug (@rabenflug) March 13, 2021
Ich bin jetzt schon heillos damit überfordert, meinem Neffen ein gefestigter Ansprechpartner zu sein, und so lenke ich kurz ab, um Zeit zu gewinnen und frage ihn stattdessen (eine dämliche Frage): „Möchtest du denn am Montag in die Schule gehen?“
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— Rabenflug (@rabenflug) March 13, 2021
Er sagt einfach nur: „Das geht nicht gut.“ und berichtet mir dann davon, dass sich die Hälfte seiner Klassenkameraden nicht an die Kontaktbeschränkungen hielten, ihre Eltern Küsschen links, Küsschen rechts zelebrierten, oft Besuche hätten.
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— Rabenflug (@rabenflug) March 13, 2021
Und er beschreibt, wie sie im Wechselunterricht vorher schon Schlitze in ihre Masken geschnitten hätten, um besser Luft zu bekommen. Mir wird immer flauer in der Magengegend und so frage ich ihn, was genau er meint mit „das geht nicht gut“.
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— Rabenflug (@rabenflug) March 13, 2021
„Naja, Oma & Opa an Ostern zu sehen fällt ja jetzt wohl flach“ sagt er. Nach einer Pause: dass er seiner Lehrerin eine Mail schreiben wird, in der er sich über alles das beschweren will, wie man mit den Kindern umgeht…und dass sein Bruder krank ist, ebenso wie seine Ma.
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— Rabenflug (@rabenflug) March 13, 2021
In diesem einen Telefonat, in dem er mir simultan die Unterlagen mailte, habe ich sämtliche Gefühlslagen von Beschämung, Bestürzung, Verzweiflung, Wut, Überforderung, Ohnmacht, Groll und Schmerz durchlebt – die geballte Palette.
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— Rabenflug (@rabenflug) March 13, 2021
Neu ist, was all das angeht, nicht. Neu ist es für niemanden hier in dieser Twitterwelt der Eltern, Lehrer, Familien und Klardenkenden. Aber alles das aus dem Mund eines Kindes zu hören, das gerade 14 Jahre alt geworden ist, zwingt mich in die Knie.
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— Rabenflug (@rabenflug) March 13, 2021
Fazit:
Was soll man dazu noch sagen? Wenn Kinder mit 14 Jahren den Ernst der Lage besser verstanden haben als so mancher Politiker und dann auch noch sehen, dass der Umgang mit ihrer Gesundheit grob fahrlässig ist, schnürt es einem schon die Kehle zu. Diese Generation wird so schnell nicht vergessen, wie sie in der Corona-Pandemie behandelt wurde. Und wie jeder weiß, sind die Kinder von heute die Wähler von morgen.
Falls ihr zu dem Thema noch einen ähnlichen Thread lesen wollt, probiert doch mal diesen hier: