Thread: Als ich ein Kind war
Ob Corona oder Energiekrise, wann immer die Worte Verzicht und Einschränkung fallen, puckert vielen Menschen die Halsschlagader. Hat man sich erst einmal an einen gewissen Lebensstandard gewöhnt, fällt es natürlich schwer, darauf zu verzichten. Das Problem hierbei ist, dass viele Menschen sich gar nicht der Tatsache bewusst sind, wie privilegiert sie im Vergleich zum Rest der Welt eigentlich sind. Wer nicht hinterfragt, warum das Kilo Hack zwei Euro kostet, versteht natürlich auch nicht, warum er besser aufhören sollte, es zu kaufen. Diese Einstellung zieht sich durch zahlreiche Bereiche unseres Lebens. Wir erachten vieles um uns herum als selbstverständlich und sogar als Bestandteil unserer persönlichen Freiheit.
Dabei lohnt es sich durchaus darüber nachzudenken, was so schlimm daran wäre, für die Dauer einer Krise oder generell aus Solidarität mal ein paar kleinere Brötchen zu backen. Ob es wirklich so dramatisch ist, wenn Schwimmbäder die Temperatur um zwei Grad absenken oder nachts die Heizungen gedrosselt werden. Schließlich gab es ja eben auch eine Zeit, in der wir mal mit weniger zufrieden waren, weil wir bestimmte Privilegien noch gar nicht hatten oder kannten. Und was hindert uns eigentlich, mit Blick auf eben diese Vergangenheit, den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu begegnen? Ihr merkt schon, es wird hier heute etwas philosophisch. Der Twitteruser @Johann_v_d_Bron nimmt euch in dem nun folgenden Thread mit auf eine kleine Reise in seine Kindheit und stellt sich genau diese Frage.
Als ich ein Kind war, lebten wir zu dritt auf 45m², viele Familien lebten in der selben Wohnungen auch mit 2 Kindern. Wir hatten einen Ölofen in der Küche und einen Heizstrahler im Bad, der angemacht wurde bevor wir – 1x die Woche – gebadet haben. Warmes Wasser aus dem Hahn |1
— Johann van de Bron (@Johann_v_d_Bron) July 7, 2022
hatten wir keins. In Bad und Küche gab es einen Boiler (das war ein großer Wasserkocher an der Wand). Bevor man warmes Wasser hatte, musste man das erst heiß machen. Meine Eltern schliefen auf einem Klappsofa im Wohnzimmer, wir hatten kein Auto, wir fuhren einmal im Jahr für |2
— Johann van de Bron (@Johann_v_d_Bron) July 7, 2022
14-21 Tage in eine kleine Pension im Sauerland oder eine Ferienwohnung im Hunsrück. Fleisch gab es am Sonntag. Unter der Woche höchstens mal ne Wurst. In unserer Siedlung haben alle so gelebt.
Wir hatten ein Telefon, das nur für wichtige Anrufe benutzt wurde, weil |3— Johann van de Bron (@Johann_v_d_Bron) July 7, 2022
telefonieren teuer war. Es gab einen schwarz-weiß TV, der 2 Monatsgehälter eines Arbeiters kostete. Wenn so etwas angeschafft wurde, musste vorher gespart werden.
Weshalb ich das erzähle? Weil wir alle trotzdem ein zufriedenes Leben geführt haben oder zumindest _wegen_ dieser |4
— Johann van de Bron (@Johann_v_d_Bron) July 7, 2022
Umstände nicht unglücklicher waren. Dieses ganze „Aber unser Wohlstand!“ „Mein Flieger auf die Malediven hatte Verspätung!“ geht mir komplett auf die Socken.
Es ist ja nicht einmal so, als würden wir auf diesen Zustand zurückfallen. Es wirft ja (hoffentlich) niemand Bomben. |5— Johann van de Bron (@Johann_v_d_Bron) July 7, 2022
Es ist genug da. Man muss es nur vernünftig verteilen.
Allein mit den Lebensmitteln, die wir wegschmeißen, könnten wir 50% der Bevölkerung kostenlos ernähren.Ich jedenfalls möchte nicht von einer Marionetten-Regierung Putins regiert werden, oder in einem trockenen |6
— Johann van de Bron (@Johann_v_d_Bron) July 7, 2022
Glutofen leben, damit ich und meine Mitbürger mehr Müll erzeugen können, um die Pyramiden-Abzocke Kapitalismus weiter Superreiche zum Mars fliegen zu lassen und in der Mitte Müllberge aus ungegessen Lebensmittel, ungetragener Kleidung und geplanter Obsoleszenz entstehen lässt
— Johann van de Bron (@Johann_v_d_Bron) July 7, 2022
Das sagen andere User:
Um das klarzustellen: Weder wir noch der Autor wollen hier die Vergangenheit glorifizieren. Andere Zeiten, andere Probleme. Aber es lohnt, sich der menschlichen Anpassungsfähigkeit bewusst zu werden. Und genau das schafft man, wenn man sich den Lebensstandard von vor zwanzig, dreißig oder gar vierzig Jahren anschaut. Dazu muss man noch nicht mal so alt sein. Es reicht schon, sich mit den Eltern oder Großeltern zu unterhalten. Vielleicht führt das ja bei dem einen oder anderen zur dringend benötigten Gelassenheit, dem kommenden Winter entgegenzusehen. Ein paar der treffendsten Kommentare und Reaktionen der Leserinnen und Leser dieses Threads haben wir hier für euch zusammengetragen:
Mir ging es auch keinesfalls um Nostalgie oder um eine generelle Aufwertung dieser Zeit.
Mir ging es einzig darum, dass ein niedriger Lebensstandard aushaltbar ist, wenn es die Lage erfordert und man die Lasten richtig verteilt.
Es muss niemand verhungern oder erfrieren.— Johann van de Bron (@Johann_v_d_Bron) July 7, 2022
Inzwischen hat sich durchgesetzt, dass gewissenlose, dekadente, wohlstandsverkommene Dummköpfe der Meinung sind, es stünde ihnen zu, verschwenderisch mit allem umzugehen – auch auf Kosten ihres eigenen Nachwuchses.
— Holla, die schnippische Waldfee – 🌲🌳🌲🌳 (@RikeWaldfee) July 7, 2022
In jeder Stadt in NRW gab es diese Siedlungen oder ganze Stadtteile – wie Duisburg Rheinhausen oder Düsseldorf Süd.
Bevor die Hochhaussilos entstanden.
Reihen von 4 bis 6 Parteienhäusern – dazwischen Wiese, Bäume, Teppichstangen und Wäscheleinen.— Johann van de Bron (@Johann_v_d_Bron) July 7, 2022
Da unterschreibe ich jedes Wort. Ein bißchen Einschränkung täte uns allen gut, denn Freiheit bedeutet nicht unbegrenzte Konsum, sondern ein Leben in Frieden für alle Menschen. Und btw – die wirklich wichtigen Dinge im Leben kosten nicht: Liebe, Freundschaft, Glücku Zufriedenheit
— AnnWew (@ann_wew) July 7, 2022
Und ich bin erst 42. Ist schon ein Wahnsinn, welche Sprünge der Lebensstandard gemacht hat. Fernflieger Urlaub und Fligchaos kann ich mir übrigens nicht leisten. Fur mich eher dekadentes Oberschichtengehabe. Deutschland hat wichtigere Probleme als Heinz Herberts Ballermannorgie
— Christoph Englert (@lronmcbong) July 7, 2022
2/2 Deshalb kann ich mit wenig trotzdem zufrieden zu sein. Das wichtigste ist für mich Gesundheit, in Frieden leben zu können, die Erzählungen meiner Oma über die Entbehrlichkeiten des Krieges und der Nachkriegszeit habe ich noch im Ohr. Viele wissen nicht, wie gut es uns geht.
— 🔴Zau-sel 🇺🇦🇪🇺 (@estenfeld1) July 7, 2022
Viele Jahre jünger. Dürftig renoviertes Fachwerk mit Nachtspeicheröfen, vor die ich mich morgens mit Decke legte, weil es so kalt war. Ganz normal. Boiler reichte zum 2x Duschen bei 5 Pers im HH. Fahrrad aus Sperrmüll zusammengebaut. Und trotzdem eine glückliche Kindheit gehabt.
— Gorn 🇺🇦 (@D3rtill3rTill) July 7, 2022
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Wer will, kann hier noch reinschauen: