Thread: Warum wir gesellschaftlich so schlecht mit Covid klarkommen
Wisst ihr noch vor zwei Jahren, als wir dachten, die Coronapendemie könnte DIE Chance sein, uns gesellschaftlich zum Besseren weiterzuentwickeln? Was waren wir naiv! Ausnahmsweise geht es heute mal nicht um die systemrelevanten Berufe und den Pflegenotstand, für die diese Erkenntnis allerdings auch zutrifft. Nein, in dem nun folgenden Thread von @Dori_Kiel geht es vielmehr um das grundlegende Verständnis von Gesundheit und Krankheit und wie dieses unser Menschenbild, unsere Politik, die Gesellschaft und vor allem die Pandemie-Maßnahmen beeinflußt. Kleine Ursache, große Wirkung. Aber bevor wir alles vorwegnehmen, lest ihr am besten selbst.
Wisst ihr warum wir gesellschaftlich so schlecht mit Covid klarkommen?
Weil wir ein völlig kaputtes Verhältnis zu Krankheit und Behinderung haben, das auf Ablehnung, Verdrängung und Ausgrenzung beruht und Krankheit als Strafe/persönliches Versagen framen.
Thread 🧵
1/18— Doro Marx (@Dori_Kiel) April 24, 2022
Ganz zu Anfang, als Covid neu war wurde direkt, um die junge, gesunde Bevölkerung zu beruhigen, immer wiederholt, dass „nur“ Alte und Vorerkrankte gefährdet sind. Was hängen blieb: hauptsächlich alte Menschen sterben, für junge Menschen und Kinder ist es nicht gefährlich. 2
— Doro Marx (@Dori_Kiel) April 24, 2022
Menschen mit Behinderung/Vorerkrankungen haben von Anfang an darauf hingewiesen, dass es viele junge Menschen mit Vorerkrankungen gibt, die mitten im Leben stehen.
In Deutschland herrscht aber das Bild vor, wir würden nur in gesonderten Räumen existieren: Pflegeheim, WfMB etc. 3— Doro Marx (@Dori_Kiel) April 24, 2022
Menschen denen man eine Behinderung nicht ansieht, die jung sind, die fit aussehen oder arbeiten können, können also nicht „richtig“ behindert sein. „Richtige“ MmB/Vorerkrankungen leben ja im Pflegeheim, sind auf der Sonderschule, nicht in Regelschulen, Unis oder arbeiten. 4
— Doro Marx (@Dori_Kiel) April 24, 2022
Dass die katastrophale Inklusionspolitik an Schulen, die mangelnde Unterstützung (finanziell, kein Pflegedienst/Assistenzteam, IPreG 🤢) und überall fehlende Barrierefreheit (looking at you, DB) dazu beitragen, MmB aus öffentlichen Räumen auszuschließen, verstärkt dieses Bild. 5
— Doro Marx (@Dori_Kiel) April 24, 2022
Also, erstes Problem: wir grenzen Menschen mit Behinderungen/Vorerkrankungen aus der Gesellschaft aus und glauben immer noch, Behinderungen/Erkrankungen beträfen hauptsächlich alte Menschen („du bist doch zu jung, um so krank zu sein“, „du siehst aber nicht krank aus“). 6
— Doro Marx (@Dori_Kiel) April 24, 2022
Für Covid bedeutet das: die FDP kann sich damit brüsten, dass in Räumen wo „vulnerable Menschen“ hingehen (Arzt, KH, Pflegeheim) weiterhin Maskenpflicht ist. Kinder mit Vorerkrankungen blenden wir komplett aus, denn Kinde sind ja jung und deshalb nicht vorerkrankt (=alt). 7
— Doro Marx (@Dori_Kiel) April 24, 2022
Behinderung und Krankheit wird also als individuelles Problem geframt. Wer gefährdet ist „kann ja weiter Maske tragen“ und sich impfen (Kinder U5, Immunschwäche ups).
Die Gesellschaft als ganzes übernimmt keine Verantwortung oder Solidarität, Krankheit/Behinderung ist Pech 8— Doro Marx (@Dori_Kiel) April 24, 2022
Oder, wenn wir das nicht als Pech wahrnehmen finden sich immer noch genug Überreste von Eugenik, wo angeborene Behinderungen/Erkrankungen ja „heutzutage nicht mehr sein müssen“ oder Fantasien wo „guten Menschen“ sowas nicht passiert. 9
— Doro Marx (@Dori_Kiel) April 24, 2022
Zweites Problem: Wir tun so, als wäre auch der Verlauf einer Covidinfektion individuell beeinflussbar bzw. persönliches Pech. Wer „ein gesundes Immunsystem“ hat „jung“ ist (ich sehe da ein Muster…) muss sich keine Gedanken machen. Und wer trotzdem schwer erkrankt…? 10
— Doro Marx (@Dori_Kiel) April 24, 2022
Tja. Wer Long Covid kriegt war wohl einfach zu „schwach“ oder doch insgeheim vorerkrankt, oder: ist einfach psychisch nicht ganz in Ordnung, ne? Denn, drittes Problem: wir glauben, dass man immer nur wollen muss, dass „ich kann nicht“ nur „ich will nicht“ bedeutet, denn… 11
— Doro Marx (@Dori_Kiel) April 24, 2022
… die ganzen jungen Leute die gar nicht behindert aussehen sind wahrscheinlich auch einfach nur zu faul zum Arbeiten und die ganzen #LongCovid-Patient*innen stellen sich auch nur anne?
Schwäche muss in ein psychisches Problem pathologisiert werden. Besonders bei Frauen*. 12— Doro Marx (@Dori_Kiel) April 24, 2022
Wer erkrankt, egal woran, muss selbst schuld sein. Hat zu wenig Sport gemacht, sich schlecht ernährt, nicht positiv genug gedacht, nicht genug, zu wenig was auch immer.
Gesundheit ist reine Eigenverantwortung geworden und wer krank wird ist selbst schuld und wird bestraft 13— Doro Marx (@Dori_Kiel) April 24, 2022
Was das ganze aber am perfidesten macht? Menschen mit Vorerkrankungen und Behinderungen wissen das. Sie sehen den Ableismus und die Exklusion. Sie warnen seit Beginn der Pandemie vor der menschenverachtenden Einstellung die sich immer wieder zeigt. 14
— Doro Marx (@Dori_Kiel) April 24, 2022
Nur: Kranken, Behinderten, Menschen mit schwachem Immunsystem die sich nicht genug anstrengen („du musst nur wollen“) hört man nicht zu, weil man sie nicht als vollwertige Menschen wahrnimmt.
Und viele vormals Gesunde, die jetzt an #LongCovid erkrankt sind, erfahren das grade. 15— Doro Marx (@Dori_Kiel) April 24, 2022
Kranke und behinderte Menschen haben keine Stimme. Menschen mit #LongCovid oder #MECFS auch nicht. Deshalb stecken wir auch die vorsichtigen, vulnerablen Menschen ausgedachte Diagnosekategorien (Cave-Syndrom? Ernsthaft?!? Fuck you!) damit bloß keiner zuhört. 16
— Doro Marx (@Dori_Kiel) April 24, 2022
Deutschland hat ein verdammt großes Ableismusproblem. Und genau deshalb verkacken wir auch die Pandemie. Weil wir ein komplett falsches Bild von Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen haben, weil wir sie ausschließen und ihnen nicht zuhören. 17
— Doro Marx (@Dori_Kiel) April 24, 2022
Und viele Gesunde, die in dieser Pandemie an den Folgen von Corona erkranken und erkranken werden, werden bald ebenfalls die Erfahrung machen, dass man ihnen nicht mehr zuhört, sobald sie auf der anderen Seite angekommen sind.
Thanks for coming to my TEDtalk. 18/Ende.— Doro Marx (@Dori_Kiel) April 24, 2022
PS: Vielleicht erklärt das auch, warum wir unser Gesundheitswesen nicht wertschätzen, weil die Menschen, die dauerhaft auf das Funktionieren angewiesen sind, auch oft die Vorerkrankten, Vulnerablen sind auf die wir grade alle scheißen? 🤷♀️ (Also vom Profitdenken mal abgesehen)
— Doro Marx (@Dori_Kiel) April 24, 2022
Das sagen andere User:
Amen. Eine schlüssige und bittere Analyse unserer Leistungsgesellschaft. Schade, dass dies anscheinend so gewollt ist. Wie viel besser könnte das Leben erst sein, wenn wir uns endlich von dieser Unmenschlichkeit verabschieden würden? Was die Leserinnen und Leser des Threads zu sagen hatten, wollen wir euch natürlich nicht vorenthalten. Ein paar der treffendsten Kommentare und Reaktionen haben wir für euch gesammelt.
Das ist eine wunderbare und schmerzliche Zusammenfassung der Tatsachen. Was mir auch auffällt: der Trend zur Pseudomedizin, den sich nur gesunde Menschen „leisten“ können, erzeugt bei einigen ein fast schon darwinistisches Überlegenheitsgefühl. Wozu Impfung, Maske, Rücksicht? 👀
— Steffi 2nez 💙💛🤰 (@2nezSteffi) April 24, 2022
Ich denke, das sind zum großen Teilen Auswüchse des neoliberalen Kapitalismus. Kapitalismus sorgt für Leistungsprinzip und Konkurrenz, die neoliberale Variante zusätzlich für die Individualisierung. Die Notwendigkeit von Sorge wird in jeder Form ausgeblendet.
— Tina (@wunder2welt) April 25, 2022
Wahrscheinlich wären wir viel lauter, wenn sich nicht furchtbar viele dafür schämen würden (teilweise sogar vor sich selbst, teilweise bis zur Verleugnung), nicht immer perfekt zu funktionieren und/oder eine Infektion möglicherweise nicht locker wegzustecken.
— Sisi Lee (@sisitralalee) April 25, 2022
Es ist einfach nur richtig was du schreibst. Eine Bankrotterklärung unserer Gesellschaft.
Woher wissen scheinbar so fitte und gesunde Menschen, dass es nicht ausgerechnet dieses neue Virus ist, das bisher unerkannte Schwachstellen aufzeigt.
Wir sollten alle demütiger sein.— Follower (@Follower_BW) April 25, 2022
Wirklich KEINE Krankheit zu haben ist eher die Ausnahme.
— Cute Lil Owl (@Cute_Lil_Owl) April 25, 2022
Das sind genau meine Gedanken. Ich muss gestehen, es bereitet mir zunehmend Probleme, mit dieser Handlungs- und Denkweise klar zu kommen. Ich bin selbst halbseitig taub und das habe ich jahrelang verschwiegen, weil oft Taub=Dumm assoziiert wird.
— Talita (@Talita62343470) April 25, 2022
Multiple sklerose, morbus crohn hirntumor, Depressionen.
Vollzeit berufstätig.
Ich trau mich gar nicht zu erwarten, dass andere etwas zu meinem Schutz tun. Ich wäre schon dankbar wenn Eigenschutz toleriert wird, ohne doofe Kommentare und abschätzige Blicke.— Luise 🔴🔴🔴 #LebenRetten (@FlodderLuise) April 25, 2022
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Passend zum Thema hätten wir noch das für euch: