Thread: Wenn man als Jüdin in Deutschland aufwächst …
Am 9. Oktober 2019 belud der Rechtsextremist S. B. sein Auto mit Waffen und Sprengsätzen, fuhr zur Synagoge im Paulusviertel von Halle an der Saale und versuchte, dort einzudringen, um die im Inneren Versammelten zu töten. Nachdem er an der Tür scheiterte, erschoss er zwei zufällige Opfer und verletzte auf der Flucht zwei weitere Personen, bevor er verhaftet wurde. Der Anschlag von Halle am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur ist ein zutiefst beschämendes Ereignis in einem Land, dessen jüdische Bevölkerung nach den Verbrechen des Nationalsozialismus besonderen Schutz genießen sollte. Und doch bildet er nur die Spitze des Eisbergs. Immer wieder liest man von Beschimpfungen oder Übergriffen auf Juden und Jüdinnen, von Menschen, die auf offener Straße bepöbelt und bespuckt werden, weil sie beispielsweise eine Kippa tragen. Nicht nur Synagogen, auch jüdische Schulen, Kindertagesstätten und Gemeindezentren werden hierzulande seit Jahren geschützt. Durch Poller, Sicherheitsschleusen oder gepanzerte Türen wie derjenigen, die den Attentäter von Halle aufhielt. Aber auch mittels Polizeischutz oder Security.
Doch wir müssen uns nicht nur die potentielle Gefahr eines versuchten Massenmords vor Augen führen, um uns darüber klar zu werden, dass jüdisches Leben in Deutschland ein anderes, gefährlicheres als das der nicht-jüdischen Menschen ist. Rassismus, Rechtsextremismus oder Antisemitismus beginnen im Kleinen. In Kommentaren, denen nicht widersprochen wird. In Scherzen, die ohne Einwand akzeptiert werden. In Äußerungen, die entschuldigend abgewunken werden. Sie nähren sich von Tabus, die immer wieder gebrochen werden. Twitteruserin @morphany ist Jüdin und erlebt diese Tabubrüche – im Alltag wie auch auf Twitter. Sie hat kein Verständnis für Menschen, die diese Tabubrüche begehen und diejenigen, die sie akzeptieren. Dies ist ihr Thread:
Ich werde jetzt mal sehr direkt und kompromisslos sein.
Ich bin eine Frau. Ich bin eine deutsche Frau.
Ich bin Jüdin.
Und wenn man als Jüdin in Deutschland auswächst, dann lernt man, dass man als jüdischer Mensch nur dann „bequem“ ist, wenn man Verständnis dafür heuchelt, 1/x— zauberhaftisnich (@morphany) March 19, 2021
wenn anderen Deutschen doch mal rechtspolitische Sprüche über die Lippen kommen.
„Ist ja nicht so gemeint. Zwinker, zwinker“
„Oder, der/die/div ist eben ein bisschen dumm.“
Ich habe da aber kein Verständnis für.
Null.
Ich habe auch kein Verständnis, dass so etwas 2/x— zauberhaftisnich (@morphany) March 19, 2021
entschuldigt wird.
Ich will weder mit Menschen, die sich äußern, noch mit den Menschen, die dass entschuldigen etwas zu tun haben.
Ich bin eine jüdische Tochter von jüdischen Eltern, die jüdische Frau eines jüdischen Mannes und vor allem bin ich 3/x— zauberhaftisnich (@morphany) March 19, 2021
die jüdische Mutter einer wundervollen 11jährigen jüdischen deutsche Tochter und eines hinreißenden 18jährigen afrodeutschen jüdischen Sohnes.
Gerade wenn ich sehe, dass rassistische, antisemitische und misogyne Äußerungen von Menschen verharmlost werden, die sich selbst als 4/x— zauberhaftisnich (@morphany) March 19, 2021
nicht antisemitisch, als nicht rassistisch, als nicht misogyn und vor allem als Kämpfer gegen solche Ungerechtigkeiten bezeichnen, macht mir das für die Zukunft meiner Kinder in diesem Land, in unserer eigenen Heimat, nämlich Deutschland,
Angst.
„Wer schweigt stimmt zu.“ 5/x— zauberhaftisnich (@morphany) March 19, 2021
Das wird ja gerne gesagt.
Was macht das also aus denen, die nicht einfach schweigen, sondern das auch schon entschuldigen?
In erster Linie macht das, dass ich mit solchen Menschen nichts zu tun haben möchte.
Auch nicht hier auf Twitter. 6/x— zauberhaftisnich (@morphany) March 19, 2021
Wer also Accounts folgt, die so etwas wie auf dem Screenshot posten, tolerieren oder auch so etwas entschuldigen, dann erwarte ich, dass Ihr mir nicht folgt.
Dieser Mensch ist mir gefolgt.
Mir als Jüdin.— zauberhaftisnich (@morphany) March 19, 2021
Viele User:innen reagierten mit Bestürzung auf den emotionalen Thread und stimmen völlig zu, dass Antisemitismus in diesem Land (und auch auf Twitter) kein Forum finden sollte. Wir haben wie üblich die treffendsten Kommentare für euch herausgesucht:
Krasser Thread.. Meine beste Freundin ist ebenfalls Jüdin und hat mir einiges erzählt was mir die Zähne schlackern lassen hat…
Ich wünsche dir und deiner Familie alle Kraft.
— Feyre (@LDFeyre) March 19, 2021
Liebe @morphany ich stimme Ihnen nicht nur in allen Punkten zu, sondern habe NULL Verständnis/Toleranz für jegliche antisemitische oder rassistische Äusserung.
— ralf r. ollertz (@OllertzRalf) March 19, 2021
Menschen mit rechtsextremen Äußerungen als dumm zu bezeichnen, ist ausgesprochen gefährlich, weil es sie von der Verantwortung für ihr Handeln entbindet.
— Muddiversum (@Muddiversum1) March 19, 2021
Danke für die offenen Worte… ich wünschte sie wären in Deutschland im 21. Jahrhundert nicht nötig… 😠
— Adrian Engel (@AdrianEngel1024) March 19, 2021
Insbesondere bei letzterem Wunsch können wir als Twitterperlen-Redaktion uns nur anschließen. Entrüstung alleine reicht nicht, wir müssen uns auch klarmachen, dass genau dieses Ziel nur dann erreicht werden kann, wenn unsere Gesellschaft jeglichem Keim von Antisemitismus oder anderen rassistischen Ausprägungen die Stirn bietet. Ja, es erfordert Überwindung, Freunde, Kolleginnen oder Familienmitglieder darauf aufmerksam zu machen, dass ein antisemitischer Kommentar oder Scherz völlig inakzeptabel ist. Doch genau dieser Widerstand kann die Tür sein, die den nächsten antisemitischen Mord verhindert. Erinnern wir uns an Jana Lange und Kevin Schwarze, die Opfer des Mörders von Halle: Rassismus tötet. Rechtsextremismus tötet. Antisemitismus tötet.
Übrigens, wer herausfinden möchte, ob er oder sie zu Rassismus neigt, kann mit wenigen Minuten Aufwand auf der Seite des Bundesministeriums für Familie einen anerkannten Test der Harvard University durchführen.