Thread: Vorurteile über ADHS
Es ist noch gar nicht so lange her, da haben wir euch hier anhand eines sehr persönlichen Threads deutlich gemacht, was es bedeutet, mit ADHS zu leben. Wer es verpasst hat, den Beitrag zu lesen, kann das gerne >HIER< nachholen. Heute geht es jedoch vorrangig um einen anderen Aspekt. Die Krankheit selbst ist eine Sache. Es gibt aber auch ein gesellschaftliches Problem, was mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung einhergeht. Viele Menschen wollen schlicht nicht begreifen, dass es sich um eine echte Krankheit handelt, und schieben die Symptome der Betroffenen auf deren Charakter oder gar deren angebliches Unvermögen, sich zu organisieren. Wie schwierig solche Vorurteile sind und wie wichtig es ist, mit ihnen aufzuräumen, das versucht euch nun die Twitteruserin @FamilienLabor zu verdeutlichen. Denn besonders im Bildungsbereich scheint es noch nicht überall angekommen zu sein, dass es diese Krankheit wirklich gibt und mit ihr Kinder, die unter den Vorurteilen ihrer Umgebung leiden.
Unser Sohn hat ADHS.
Ein Thread gegen Vorurteile.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Fast jeder hat eine Meinung dazu, die oft durch gängige Vorurteile bedient wird:
„ADHS gibt es nicht, es ist eine Erfindung der Pharmaindustrie!“
„Da läuft in der Erziehung was schief und das Kind guckt zu viel Fernsehen!“
„Mit Medikamenten werden die Kinder nur ruhig gestellt.“— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Schon als Kleinkind war unser Sohn lebhaft, schnell gelangweilt, oft hibbelig und sprunghaft in seinen Interessen, aber auch ich dachte immer: „Er ist eben ein Junge – nur weil ein Kind nicht stillsitzen kann, hat es nicht gleich ADHS.“ Mit der Einschulung fingen die Probleme an.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Er konnte nicht lange sitzenbleiben, war ständig unkonzentriert, verlegte seine Schulsachen, mehrere Lehrergespräche folgten. Maßnahmen wie Sitzkissen und Flitzepausen haben wenig bewirkt. Die Flitzepausen wurden immer länger, oft vergaß der Lehrer ihn draußen – es war bequemer.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Anfangs gab es nur schriftliche Zeugnisse und keine Hausaufgaben – der Lehrer war nachsichtig bei der Bewertung und so ging unser Sohn immer noch gerne in die Schule. Ein umzugsbedingter Schulwechsel brachte die Wende, die erste Lernstandserhebung: Eine Katastrophe.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Statt Zweien plötzlich Vieren, der alte Lehrer hatte Stoff verschleppt, unser Kind war überfordert vom normalen Arbeitstempo und frustriert von seinen eigenen Leistungen. Die neue Lehrerin, sehr engagiert und mit einer Montessori-Ausbildung bat uns schnell zum Gespräch.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Unserem Sohn würden die exekutiven Fähigkeiten fehlen – er könne sich weder konzentrieren noch organisieren, er störe dadurch den Unterricht. Er sei sehr schlau, aber kriege das nicht aufs Papier – sie werde mit ihm arbeiten, aber sie habe noch 26 andere Kinder. Verständlich.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Sie verurteilte nicht, sie nahm das Wort ADHS nicht in den Mund, sie empfahl stattdessen eine Gruppenkonzentrationstherapie und unterstützte, wo es ging. Zu Hause kämpften wir stundenlang mit den Hausaufgaben, die es an der vorherigen Schule nicht gab.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Uns wurde schlagartig klar, dass es schlimmer ist als normale Hibbeligkeit. Er hatte ein ablenkungsfreies Arbeitsumfeld, kaum Medienzeiten, er war viel draußen und in Bewegung. Es half nichts. Die Fliege an der Wand lenkte ihn ab, er konnte keine zwei Minuten am Stück arbeiten.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Seine jüngere Schwester, Klassenbeste, war in 5 Minuten fertig mit den Hausaufgaben, er hingegen kämpfte Stunden. Sein Frust stieg. Er versuchte verzweifelt, in der Schule zu funktionieren, abends brach er in sich zusammen. Hinzu kamen soziale Schwierigkeiten.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Wenn andere Kinder redeten, konnte er nicht zuhören, er redete selbst wie ein Wasserfall. Die anderen Kinder waren schnell genervt. Mit Nachhilfe und viel Unterstützung der Lehrerin funktionierte es oberflächlich irgendwie, aber sein Selbstvertrauen schwand.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Er war wütend auf sich selbst, auf seine Schwester und das entlud sich abends. Sehr schwere Wutanfälle folgten. Kein normales Mit-dem-Fuß-Aufstampfen. Es war schlimmer, für alle kräftezehrend. Oft schwang er am Ende das Bein über den Balkon und sagte, dass er nicht mehr will.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Wir suchten Hilfe beim Kinderpsychiater. Tests ergaben eine schwere Konzentrationsstörung, verbunden mit einer besonderen sprachlichen Begabung. Die Diagnose ADHS war da. Als wir die Leitsymptome lasen, erkannten wir unseren Sohn in jedem Punkt. Es war auch eine Erleichterung.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Wir wussten, was es ist. Wir belegten ein Elterntraining beim Kinderpsychiater, trafen dort Eltern, deren Kinder die Diagnose nicht bekommen haben, obwohl sie überzeugt davon waren. Wir verstanden: Der Arzt, ein ausgewiesener Experte, stellte die Diagnose also nicht leichtfertig.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Ich, von Haus aus Wissenschaftlerin, las mich ein. Ich begann zu verstehen, dass es eine organische Ursache gibt. Unser Frontalhirn muss Reize mit Hilfe untergeordneter Hirnzentren filtern, sortieren, ablegen, löschen oder weiterleiten. Es muss nach Priorität selektieren.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Funktionieren all diese Filter nicht ausreichend, kommt es zu einem Datencrash, das Gehirn kann die einströmenden Reize nicht sinnvoll verarbeiten. ADHS ist im PET nachweisbar, es gibt dazu gesicherte Daten. Eine Ursache ist u.a., dass Dopamin zu schnell abgebaut wird.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Man kann es als Störung oder Normvariante bezeichnen, es ändert daran nichts: Die Folgen sind verheerend und beeinträchtigen den Alltag in sehr vielen Bereichen, nicht nur in der Schule. Ich habe mal eine Beschreibung gehört, die hilft, es zu verstehen:
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Stellt euch vor, ihr werdet permanent mit bunten Bällen beworfen: Die grünen sollt ihr fangen, die roten zurückwerfen, den blauen ausweichen und nebenbei löst ihr noch Matheaufgaben, die euch jemand zuruft. So in etwa fühlt sich jemand mit ADHS, wenn er eine Aufgabe lösen soll.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Diese Kinder leiden. Seltener, weil sich die Gesellschaft nicht an sie anpasst, sondern weil sie merken, dass sie Dinge nicht können, die anderen leichtfallen. Zu viele Reize strömen auf sie ein, ihr Filtersystem ist gestört. Sie scheitern oft, ihr Selbstbewusstsein leidet enorm.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Verhaltens- und Konzentrationstherapie haben, alleine angewendet, oft nur bedingten Erfolg, es beseitigt die organische Ursache nicht. Und die Folgen von unbehandeltem ADHS können verheerend sein: Die Wahrscheinlichkeit für Suchterkrankungen, Depressionen und Selbstmord steigt.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
All das kann nachweislich reduziert werden, wenn erfolgreich mit einem Medikament behandelt wird. Auch unser Sohn nimmt ein solches Medikament. Die Einstellung ist langwierig – wir sind noch dabei, aber bemerken bereits: Er ist weder ruhig gestellt, noch wesensverändert.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Es geht ihm einfach besser. Er gewinnt an Selbstvertrauen, die kräftezehrenden Wutanfälle sind fast verschwunden und er geht wieder wacher und motivierter in die Schule. Er will wieder lernen und er realisiert selbst, was ihn daran hindert, bestimmte Ziele nicht zu erreichen.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Wir wollen unser Kind nicht ruhig stellen. Wir wollen, dass er die nötige Therapie für seine Erkrankung bekommt, die weder eine Erfindung der Pharmaindustrie noch das Resultat schlechter Erziehung ist. Wir wollen nicht, dass „ADHSler“ ein Schimpfwort in der Schule ist.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Wir wünschen uns, dass mehr Menschen darüber informiert werden, damit Eltern und vor allem Kinder nicht Opfer dieser Vorurteile werden. Es ist für alle Beteiligten auch ohne diese Vorwürfe belastend genug.
Danke fürs Lesen, es musste einfach mal raus.
— FamilienLabor ☢ (@FamilienLabor) September 10, 2021
Das sagen andere User:
Auch in diesem Fall kann man dankbar für die Existenz des Internets sein. Denn das World Wide Web bringt jede Menge Menschen zusammen, die ähnliche Erfahrungen machen mussten. So können sie sich gegenseitig Trost spenden und Tipps geben. Ein paar der besten Kommentare haben wir hier zusammengetragen.
Das kommt mir so bekannt vor.
Unser Sohn hat auch ADHS. Der Weg bis zur Diagnose war langwierig. Die Medikation hat geholfen, dass er relativ gut durch die Schulzeit gekommen ist. Heute ist er 25, hat eine abgeschlossene Ausbildung und geht seinen Weg.— Lila Bär (@LilaBr2) September 10, 2021
Sehr gute Erklärung🥰. Eine Anm. hätte ich noch: Das Medi ist kein Beruhigungsmittel, sondern das Gegenteil, ein Amphetamin. Klingt unlogisch, aber funktioniert. Wir hatten diese Odyssee bis er 14 war. Jetzt ist er bei den Klassenbesten, ausgeglichen und vor Allem glücklich.
— Tütti (@Tuetti70) September 11, 2021
Aus lehrersicht: ich arbeite schon seit vielen Jahren mit ad(h)s Kindern zusammen und sehe in der Beschreibung viele meiner Schüler. Nicht alle haben das Glück, liebevolle und sorgende Eltern zu haben. Liebe die fixe Auffassung, das Andersrumdenken, das adhs-ler oft mitbringen.
— Suse We (@SuseWe4) September 11, 2021
Meine Kinder haben alle drei AD (H)S. Die Schulzeit war fürchterlich,aber mit Medikamenten und Therapie war für den Kleinen Schule erst überhaupt möglich.Wir sind unseren Weg gegangen-erfolgreich.
— wuf-wuf (@FleckisMom) September 10, 2021
Hab selber ADHS( bin 19 ) und deine Thread ließt sich wie eine Dokumentation meiner Kindheit. (Wie oft meine Mutter wegen mir beim Busunternehmen war…) Thanks for sharing. 🙏 Wünschte mir meine Mutter währe ma drauf gekommen, wurde bei mir erst dieses Jahr diagnostiziert.
— toller junger erwachsener (@outofskill_) September 10, 2021
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit. Zum Thema Vorurteile haben wir noch das hier für euch: