Thread: Über #MeToo-Prozesse an deutschen Gerichten
Im kommenden Herbst wird die #MeToo-Bewegung inzwischen vier Jahre alt. Sie gilt bis dato als die stärkste Kampagne gegen sexualisierte Gewalt, Belästigung und Übergriffe. Manche sprechen sogar von einer neuen Ära des Feminismus. Tatsächlich sind infolge der #MeToo-Bewegung öffentliche Debatten über Sexismus und männlichen Machtmissbrauch präsenter als zuvor, aber hat sich auch etwas für die Opfer getan? Juliane Löffler ist Senior Reporterin bei Ippen Investigativ (für BuzzFeed News, Frankfurter Rundschau, Münchner Merkur etc.) und schreibt über LGBT* und Frauenrechte. In dieser Funktion hat sie sich viel mit #MeToo-Prozessen und Urteilen beschäftigt und ein paar erschreckende Gemeinsamkeiten in dem nun folgenden Thread zusammengetragen. Aber lest am besten selbst.
Ich habe in den letzten Monaten viel Zeit in #MeToo-Prozessen an deutschen Gerichten verbrachte und fasse hier aus meinen Beobachtungen zusammen, was für (mutmaßliche) Opfer extrem problematisch läuft (#1Thread):
— Juliane Löffler (@laloeffelstiel) August 10, 2021
1. Wenn Opferzeug:innen sich schlecht erinnern können, sind sie nicht glaubwürdig, oder ihre Aussagen nicht stichhaltig genug, so dass es: *im Zweifel für den Angeklagten* heißt.
— Juliane Löffler (@laloeffelstiel) August 10, 2021
2. Haben sie sich Notizen gemacht, Gedankenprotokolle etc. werden diese im Zweifelsfall genutzt, um Widersprüche zu säen – weil etwa die Erinnerungen an die mutmaßlichen Übergriffe verblasst sind und anders, als das, was vor langer Zeit verschriftlicht wurde.
— Juliane Löffler (@laloeffelstiel) August 10, 2021
3. Hat ein:e Opferzeug:in kaum Belege dokumentiert (Memos, Quittungen, Emails und Nachrichten an Vertraute etc.), heißt es, das sei nicht auszuschließen, das alles erfunden sei.
— Juliane Löffler (@laloeffelstiel) August 10, 2021
4. Hat die Person zu viele Belege dokumentiert, sich an verschiedene Stellen um Hilfe gewendet, mit vielen Dritten gesprochen, nach weiteren Opfern gesucht, wird ihr Verfolgungseifer unterstellt.
— Juliane Löffler (@laloeffelstiel) August 10, 2021
5. Ist ein Opfer alleine, heißt es: das ist ein Einzelfall und in der Form natürlich schwer zu belegen.
— Juliane Löffler (@laloeffelstiel) August 10, 2021
6. Sind die Opfer viele, kann argumentiert werden: Es ist eine Kampagne, die Menschen haben sich verschworen.
— Juliane Löffler (@laloeffelstiel) August 10, 2021
7. Zeigt eine mutmaßlich missbrauchte Person bei der Aussage wenig Gefühle, gilt sie als unglaubwürdig oder berechnend (siehe oben). Erhebt sie keine scharfen Anschuldigungen ist merkwürdig, dass *alles ja nicht so schlimm gewesen sein könne*.
— Juliane Löffler (@laloeffelstiel) August 10, 2021
8. Zeigt eine mutmaßlich missbrauchte Person bei der Aussage sehr viele Gefühle, kann ihr unterstellt werden, sie sei psychisch instabil. Erhebt sie scharfe Anschuldigungen werden einseitige Belastungstendenzen vermutet.
— Juliane Löffler (@laloeffelstiel) August 10, 2021
9. Ist eine Person sehr schlecht vorbereitet, heißt es, das könne ihr offenbar alles nicht so wichtig sein.
— Juliane Löffler (@laloeffelstiel) August 10, 2021
10. Ist eine Person extrem gut vorbereitet, siehe oben: Belastungseifer. Motive wie Rache etc. werden unterstellt.
— Juliane Löffler (@laloeffelstiel) August 10, 2021
11. Ist die Person nicht akademisch gebildet oder kann sich sprachlich nicht so gut ausdrücken: prinzipiell schon mal weniger glaubwürdig und schlecht verständlich.
— Juliane Löffler (@laloeffelstiel) August 10, 2021
12. Ist die Person hervorragend akademisch gebildet: Die hat ja genau verstanden, was passiert ist – warum hat sie sich nicht gewehrt? Das war doch alles auf Augenhöhe.
— Juliane Löffler (@laloeffelstiel) August 10, 2021
Das ist eine grobe + unvollständige Zusammenfassung + andere können das präziser als ich. Aber ich habe in den letzten Monaten so heftige Szenen in Gerichtssälen erlebt, aus denen mir klar wurde, warum Missbrauchsfälle selten vor Gericht landen und noch seltener verurteilt werden
— Juliane Löffler (@laloeffelstiel) August 10, 2021
Und ich frage mich: Wie kann es sein, dass da nicht mehr Richtung Opferschutz passiert? Dass überhaupt mal ein Minimalverständnis dafür da ist, wie man traumatisierte Menschen befragt? Dass man sicherstellt, dass es bei Schöffengerichten eine Frauenquote gibt?
— Juliane Löffler (@laloeffelstiel) August 10, 2021
Zum Glück ist meine Position nicht, Menschen zu raten, was sie in solchen Momenten machen sollen (dafür gibt es Beratungsstellen. Ich kann nur das, was ich kann: die journalistische Aufarbeitung).
— Juliane Löffler (@laloeffelstiel) August 10, 2021
Aber ich kann verstehen, warum mutmaßlich von Machtmissbrauch oder sexualisierter Gewalt betroffene Personen sich mehr Hilfe von der Presse erhoffen, als von der Justiz. Was für ein tristes Fazit. Und ich wünschte, es wäre anders.
— Juliane Löffler (@laloeffelstiel) August 10, 2021
Kleine Präzisierung: die Beobachtungen ergeben sich nicht nur aus Prozessen, bei denen ich war, sondern auch Urteilen, die ich gelesen und Quellen, mit denen ich gesprochen habe.
— Juliane Löffler (@laloeffelstiel) August 10, 2021
Das sagen andere User:
Die Crux an den #MeToo-Prozessen ist das Prinzip „im Zweifel für den Angeklagten oder die Angeklagte“, das für unseren Rechtsstaat fundamental ist. Die Beweislast liegt natürlich bei Klägerin oder Kläger. Sexueller Missbrauch bildet da keine Ausnahme, gehört aber zu den Vorwürfen, die oftmals schwer zu beweisen sind und vom Leumund der Opfer abhängig gemacht werden. Dass diese Opfer in den Prozessen oder gar im Vorfeld persönlich attackiert werden, um die Vorwürfe zu entkräften, muss allerdings aufhören. Hier braucht es deutlich mehr Opferschutz und Sensibilität im Umgang mit den Zeuginnen und Zeugen. Wie immer haben wir ein paar der treffendsten Reaktionen für euch hier gesammelt.
Fazit: Frau kann es eigentlich nicht richtig machen. Das ist extrem deprimierend.
— notmyname 🏳️🌈 (@meantweet298) August 10, 2021
Auch Richter*innen und Staatsanwälte*innen wachsen im Patriarchat auf, lernen im Patriarchat und urteilen im Patriarchat. Und gerade das Rechtssystem wurde über Jahrzehnte von Männern geformt und das ändert sich, aber es ändert sich langsam.
— Eva Ich bin sehr müde Horn (@habichthorn) August 10, 2021
Deiner Aufzählung kann ich hinzufügen, dass missbrauchten Männern noch weniger geglaubt wird – hätten sich ja wehren können.
Wenn sie sich aber wehren gelten sie als gewaltaffin und übergriffig…
— StandingDad🦋 – 🌈🛑👽💛 #noPAS (@PaPiJo2011) August 10, 2021
Die „Gegenargumente“ sind die klassischen Totschlagargumente, die ich ganz genau so, teilweise Wort für Wort, z. B. aus den seelisch zerrüttenden Konflikten mit meinen Eltern früher kenne. Das ist keine rationale Debatte, das ist emotionale Zersetzung. 😡
— Alice im Ärzteland 🧚♀️ 🏳️🌈👊🏿👊🏼👊🏽⚧ (@imAerzteland) August 10, 2021
Das ist genau das, was auch Fachberatungsstellen und Betroffene bei #Missbrauch/ #sexualisierteGewalt in Kindheit/Jugend seit Jahren kritisieren und versuchen publik zu machen. Als Betroffene*r hat man kaum jur. Chancen und viele gehen genau deshalb nicht diesen Weg.
— Beate Kriechel (@BeateKriechel) August 10, 2021
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit. Das aktuellste und prominenteste Beispiel für schwer zu beweisende Vorwürfe haben wir hier für euch verlinkt: