Thread: Über das Festhalten von Kindern beim Zahnarzt
Gibt es eigentlich etwas Unliebsameres und Unangenehmeres als Zahnarztbesuche? Geht überhaupt jemand gerne dahin? Nein, diese Angst zu haben, ist nicht nur bei Kindern weit verbreitet. Auch die coolsten Erwachsenen empfinden den Gang zum Dentisten jedes Mal aufs Neue als unbehagliche Situation, die sie am liebsten vermeiden würden. Mal abgesehen von den Schmerzen, wer öffnet schon gerne seinen Mund und lässt jemanden mit brummenden, surrenden und fiependen Geräten sowie spitzen Gegenständen darin herumhantieren? Niemand. Zahnarzt-Furcht ist nichts, wofür man sich schämen müsste. Damit sich diese aber nicht zu einer ausgewachsenen Zahnarztangst entwickelt, ist Fingerspitzengefühl gefragt. Ganz besonders bei den jüngsten Patienten. Hier sind allerdings nicht nur die Zahnärzte, sondern auch die Eltern gefragt. Leider reagieren beide Parteien da nicht immer besonders diplomatisch und tendieren auch mal dazu, Zwang auf die Kinder auszuüben. Was das für Folgen für die Psyche der Kinder haben kann und wie es anders und besser geht, das verrät nun der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Dr. med. Oliver Dierssen, der über dieses Thema den nun folgenden Thread geschrieben hat.
„Sonst muss ich den Papa bitten, dass er deine Hände festhält“, sagt die Zahnärztin.
Ein Thread über das Festhalten von Kindern bei der zahnärztlichen Behandlung.
Kurzfassung: Bitte nicht festhalten.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) July 28, 2021
Viele Menschen haben Angst vor der zahnärztlichen Untersuchung, Erwachsene ebenso wie Kinder. Zähne, das wissen wir, sind kostbar, fast unersetzlich. Dass daran gerissen, gekratzt, gebohrt wird, geht unter die Haut. Es schmeckt unangenehm, tut oft weh, klingt auch fremdartig.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) July 28, 2021
Dass Kinder am besten so wenig wie möglich über zahnärztliche Behandlungsschritte aufgeklärt werden sollten, damit sie sich bloß nicht gruseln, ist überholt. Sie müssen altersentsprechend aufgeklärt und miteinbezogen werden, mit gebotenem Ernst und glaubwürdigen Erklärungen.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) July 28, 2021
Wenn ein Kind sich während einer zahnärztlichen Behandlung Mitspracherecht, ausführliche Aufklärung, Erholungspausen wünscht, ist dieser Wunsch ebenso ernstzunehmen wie bei Erwachsenen. Es beugt nicht nur späteren Ängsten vor, sondern ist ethisch absolut richtig und geboten.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) July 28, 2021
„Sagen Sie bloß nicht, dass es wehtut oder schlimm ist!“ Wer als Elternteil diesen Rat bei der kinderzahnärztlichen Untersuchung erhält, ist in einer Zwickmühle. Kann man Kindern den Schmerz „einreden“ und „ausreden“? Sollte man untertreiben? Oder doch schonungslos ehrlich sein?
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) July 28, 2021
Wer versucht, Kindern Gefühle wie Schmerz / Angst auszureden, hat damit selten Erfolg. Meist stellen sich diese Gefühle dennoch ein, jedoch mit dem belastenden Gedanken: „Dass ich Angst habe, dass es wehtut, das muss an mir liegen! Die Erwachsenen sagen ja, es tut gar nicht weh.“
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) July 28, 2021
„Nein, das tut ja gar nicht weh!“ – „Nein, das kann gar nicht schlimm sein!“ Wer Kinder mit unehrlichen Floskeln durch eine ärztliche Behandlung zwingen möchte, sollte sich fragen, ob solche Sprüche hingenommen werden würden, ginge es um den eigenen Mund und den eigenen Schmerz.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) July 28, 2021
Kinder durch Schmerz oder Angst hindurchzubegleiten, geduldig auch einen zweiten, dritten, vierten Anlauf zu machen, erfordert Einfühlungsvermögen und emotionale Belastbarkeit. Erwachsene müssen sich diesen Gefühlen dann selbst stellen, sie selbst aushalten. Das kann schwer sein.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) July 28, 2021
Wer sich kindlichem Schmerz oder Angst nicht stellen möchte, mag die Versuchung spüren, die zahnärztliche Behandlung „mit Macht“ schnell zu durchzuführen, auch gegen Widerstand. Dies ist ein schwerer Missbrauch der Macht der Erwachsenen, dazu gefährlich – und vollkommen unnötig.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) July 28, 2021
Es gehört zum Nährboden traumatischer Situationen, dass eine Atmosphäre der Hilflosigkeit und Unausweichlichkeit entsteht, in der Angst und Schmerz „erduldet“ werden, damit es endlich vorübergeht. Eine solche Atmosphäre ist bei einer ärztlichen Behandlung nicht hinzunehmen.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) July 28, 2021
Damit keine traumatischen Erlebnisse während einer ärztlichen Behandlung entstehen, benötigen Kinder stets eine sichere Exit-Möglichkeit: Behandlungsstopp zB. durch Handheben.
Auch das Vertagen der Behandlung muss möglich sein. Eine Jetzt-oder-nie-Situation muss vermieden werden.— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) July 28, 2021
Wenn ein Kind zu einer ärztlichen Behandlung festgehalten werden muss, ist von einer Freiwilligkeit nicht mehr auszugehen. Dies mag in einer absoluten Notfallsituation zu rechtfertigen sein. In der zahnärztlichen Behandlung gibt es i.d.R. die Möglichkeit zu einer Kurznarkose.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) July 28, 2021
Faustregel für Eltern: Wenn Sie sich während der kinderzahnärztlichen Behandlung unwohl fühlen und Ihr Kind vom Behandlungstisch holen und gehen möchten, tun Sie es. Folgen Sie diesem Instinkt, selbst wenn er sich nur leise meldet. Es gibt andere Tage und andere Praxen.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) July 28, 2021
Übrigens: Nicht nur zahnärztliche Behandlungen können schmerzfrei ablaufen, sondern auch das Gendern von Texten, wie Sie möglicherweise (aber vermutlich eher nicht) an diesem Thread gemerkt haben.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) July 28, 2021
Nachtrag: Selbstverständlich gilt dies alles ebenso für andere ärztliche Eingriffe wie z.B. Blutabnehmen.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) July 28, 2021
Das sagen andere User:
Festhalten beim Zahnarzt? Puh, da wurden bei so manchen Lesern unschöne Erinnerungen an die eigene Kindheit wach. Aber es gibt auch viele Zahnärzte, die gewissenhaft und ruhig mit der Problematik umgehen, und natürlich auch jede Menge Eltern, die ihnen dafür dankbar sind. Die treffendsten Reaktionen haben wir hier für euch zusammengetragen.
Kindheitstrauma… Bin bestimmt 5 Mal bei medizinisch schmerzlichen Eingriffen gegen meinen Willen festgehalten worden. Fast noch schlimmer: Das Lügen meiner Eltern vorher („Da wird nichts gemacht“) und das Verurteilen später („Das war uns peinlich wie du dich benommen hast“).
☠️— Alice im Ärzteland 🧚♀️ 🏳️🌈👊🏿👊🏼👊🏽⚧ (@imAerzteland) July 28, 2021
Ich hab meinen Kindern ganz ehrlich gesagt, was beim Arzt passiert.
Kinder sind nicht blöd.
Kinder verstehen das.
Kinder können damit umgehen, wenn der Arzt es auch noch mal in Ruhe erklärt.
Ich fahr recht weit zu den Ärzten unseres Vertrauens.
Nie bereut.— 🔴Wasdnedsagsd?! – auf Reha 🧠🩹 🩹 (@wasdnedsagsd) July 28, 2021
Unser Zahnarzt bei meinem Sohn: Schmerzlinderndes Gel in die Haut. Danach die Betäubung. Danach „ich bohre nicht, ich wasche nur mit Wasser aus“. Und dazwischen alles erklären, zeigen, eventuell mit dem Wasser spielen lassen. Ich bin bereit ein Denkmal zu errichten.
— Paul (@Paul65591807) July 28, 2021
Meine Mama hat wahnsinnige Angst vorm ZA aber zum Glück hat sie das nicht auf mich übertragen. Der befreundete ZA ist superlieb, hat mich als Kind immer mit Prinzessin angeredet und gebeten dass ich auf meinem Thron Platz nehme. Schmerzen mussten nie ausgehalten werden 🙏🏼
— LittleMissFortune✨ (@xFoxdevilswild) July 28, 2021
Wenn Eltern bei uns sagen: Dann halt ich Dich fest. Oder Jetzt stell Dich nicht so an.
Dann sagen wir: nein! Wir haben hier keine Gurte am Stuhl. Wir machen keine Behandlung gegen den Willen des Kindes.Dass Eltern dazu zwingen wollen, kommt öfter vor als man denkt.
— Frl „Kassandra“ Schmitt (@FrlSchmitt) July 28, 2021
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit. Wer mehr vom Kinderpsychologen lesen möchte, klickt hier: