Thread: Ich habe Abitur an einer Waldorfschule gemacht
Die meisten von euch kennen die Klischees über Waldorfschüler, die ihren Namen tanzen können. Aber was steckt tatsächlich dahinter? Eine Waldorfschule ist eine Schule, an der nach der von Rudolf Steiner begründeten Waldorfpädagogik unterrichtet wird. Diese beruht auf der anthroposophischen Menschenkunde, die er ebenfalls höchstselbst begründet hat. Diese ist eine weltweit verbreitete spirituelle und esoterische Weltanschauung mit einem speziellen Ausbildungs- und Erkenntnisweg. Sie versucht mehrere Elemente wie den deutschen Idealismus, die Weltanschauung Goethes, christliche Mystik, Gnostizismus, fernöstliche Lehren und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die Steiner selbst gemacht hat, miteinander zu verschmelzen. Klingt abenteuerlich? Ist es auch! Eine der Hauptquelle der Lehre bildet dabei die okkulte „Geheimwissenschaft“, die der Erfinder nach eigenen Aussagen aus Erforschungen einer für ihn bestehenden „geistigen Welt“ mit Hilfe von „Hellseherorganen“ erlangt hat. Wer hier nicht ins Stutzen gerät, dem können wir auch nicht helfen. Stundenlang über das „besondere“ pädagogische Konzept zu schreiben, ersparen wir euch an dieser Stelle. Nicht, dass ihr vom Kopfschütteln noch ein Schleudertrauma bekommt. Schlimm genug, dass Waldorfschulen in Deutschland staatlich genehmigte bzw. staatlich anerkannte Ersatzschulen sind, wenngleich auch in freier Trägerschaft. Stattdessen lassen wir heute jemanden zu Wort kommen, der so eine Schule besucht hat. Die Twitteruserin @notemmalou hat über ihre Erfahrungen mit der Waldorfpädagogik den nun folgenden Thread geschrieben, den jeder gelesen haben sollte.
Ich habe Abitur an einer #Waldorfschule gemacht. Das ist die Geschichte:
Ich besuchte die Waldorfschule ab der 1. Klasse. In der 9. verließen uns ein paar Schüler*innen & bekamen den Hauptschulabschluss zugesprochen, wofür sie Schulhefte & Klassenarbeiten vorlegen mussten. (1/17)— emmalou (@notemmalou) March 21, 2022
Im Laufe der 11. Klasse wurde von einem Gremium der Lehrerschaft darüber entschieden, wer welchen höheren Abschluss machen würde: Realschulabschluss, Fachabitur oder Allgemeine Hochschulreife. Wie bei vielem anderen hatte der Wille der Schüler*innen kein großes Gewicht. (2/17)
— emmalou (@notemmalou) March 21, 2022
Es ging um Erfolgsaussichten & um die Bilanz einer Schule, die der Geschäftsführer mir gegenüber mal als „Waldorfgymnasium mit etwas Eurythmie“ beschrieben hat. Übersetzt: Die größtenteils wohlhabenden Akademiker*innen-Eltern erwarteten den gebührenden schulischen Erfolg. (3/17)
— emmalou (@notemmalou) March 21, 2022
Die Schule musste einen entsprechenden Ruf wahren & gute Abschlussnoten produzieren. Auf diese war man stolz, belegten sie doch den Erfolg einer Schule, die von vielen Seiten „angefeindet“ wurde.
Schüler*innen, die einen höheren Abschluss machen wollten, als sie durften, (4/17)— emmalou (@notemmalou) March 21, 2022
verließen die Schule & machten ihn anderswo.
Eine Freundin von mir z.B. an einer Waldorfschule mit schlechterem Image.Die Klassen 12 & 13 dienten der Vorbereitung und Ablegung der jeweiligen Prüfungen. Zum ersten Mal wurden wir dazu in Gruppen getrennt nach Abschlüssen. (5/17)
— emmalou (@notemmalou) March 21, 2022
Fürs Abitur lernten wir jetzt richtig viel Stoff & schrieben immer wieder Übungsklausuren am Samstag. Für unsere Abinoten würden ausschließlich die zentralen Prüfungen des Bundeslandes gelten. Wobei, nicht ganz: In zwei Fächern durften Schuljahresnoten eingereicht werden. (6/17)
— emmalou (@notemmalou) March 21, 2022
Zur Überprüfung, ob alles mit rechten Dingen zuging, fand dann ein Unterrichtsbesuch durch einen externen Lehrer statt, der die Noten bewilligen musste.
Eins dieser Fächer war „Gemeinschaftskunde“. Unser Lehrer plante dafür mit uns gemeinsam einen Schwindel. Jede*r von uns (7/17)— emmalou (@notemmalou) March 21, 2022
sollte eine Theorie aus Soziologie und Politik studieren und auswendig lernen. Beim Unterrichtsbesuch stellte er Fragen, zu denen sich immer alle von uns melden sollten. Dann nahm er die Person dran, von der er wusste, dass sie als einzige die Antwort kennen würde. (8/17)
— emmalou (@notemmalou) March 21, 2022
Auch geschummelt wurde bei der (mündlichen) Prüfung in Russisch. Es gab eine Liste mit Fragen & Antworten zum Auswendiglernen für die Schüler*innen, von denen viele bis zum Schluss sagten, sie könnten eigentlich kaum ein Wort Russisch. Es war das übliche Vorgehen, von dem (9/17)
— emmalou (@notemmalou) March 21, 2022
wir vorher alle wussten. Viele Mitschüler*innen nahmen dennoch Nachhilfe, besonders auch in Mathe.
Damals glaubte ich voll & ganz an die Erzählung meiner Schule: Wir sind eine gute Schule, die traditionell sehr gute Abinoten produziert. Obwohl die Bedingungen für uns (10/17)— emmalou (@notemmalou) March 21, 2022
erschwert sind. Für uns zählt nur die eine Prüfung, wir können keine Punkte sammeln. Deswegen sind wir eigentlich besser als andere Schulen, ist die Waldorfschule die beste Schulform.
Aber: Unsere Abschlussprüfungen wurden von unseren eigenen Lehrer*innen erstkorrigiert. (11/17)
— emmalou (@notemmalou) March 21, 2022
Meine mündliche Bioprüfung habe ich über das Buch „Das kooperative Gen“ von Joachim Bauer gemacht. Ein Kritiker bezeichnet das Buch als „bar jeglicher wissenschaftlicher Evidenz“ und spricht von „tiefste[m] Unverständnis und oberflächlich angelesene[m] Halbwissen.“ (12/17)
— emmalou (@notemmalou) March 21, 2022
Very Not Fun Side Note: Bauer hat offenbar im NSU-Prozess ein Gutachten erstellt, das Zschäpe eine verminderte Schuldfähigkeit attestierte und sprach gegenüber der WELT von einer „Hexenjagd“ gegen sie. Alles nachzulesen hier: https://t.co/0mPRqmVldL (13/17)
— emmalou (@notemmalou) March 21, 2022
Zurück zur Bioprüfung: Eine recht simple Frage zur Erkennung von pseudo-wissenschaftlichen Argumenten konnte ich nicht beantworten. Dennoch bekam ich 13 Punkte. In der Diskussion um die Note saßen neben dem externen eben mein Lehrer + eine weitere Lehrerin meiner Schule. (14/17)
— emmalou (@notemmalou) March 21, 2022
So kam der ziemlich gute Notenschnitt meiner Abschlussklasse zustande. Den ich als Beweis dafür nahm, dass Waldorf funktioniert. Dabei habe ich auch erfolgreich ausgeblendet, wie krass ich im letzten Jahr vor meinem Abi gelitten habe, um diese Prophezeiung zu erfüllen. (15/17)
— emmalou (@notemmalou) March 21, 2022
Ich habe am Ende fast pausenlos gelernt, viel zu wenig geschlafen, mir wichtigen Stoff in meiner Freizeit gemeinsam mit Anderen erarbeitet. Der Druck vor und in den Prüfungstagen war unglaublich.
Ich dachte, ich sei eben zu perfektionistisch. (16/17)— emmalou (@notemmalou) March 21, 2022
Dass mich die 11 vorherigen Schuljahre vielleicht kaum auf das vorbereitet hatten, was jetzt von mir erwartet wurde, habe ich erst später vermutet. (17/17)
— emmalou (@notemmalou) March 21, 2022
Das sagen andere User:
Puh! Wir hatten ja immer schon ein ungutes Gefühl, aber wenn das oben geschriebene zum Standard solcher Schulen gehört, dann fragt man sich schon, ob die staatliche Anerkennung nicht besser entzogen werden müsste. Natürlich wollen wir wieder die Leserinnen und Leser zu Wort kommen lassen. Ein paar der treffendsten Reaktionen und Kommentare haben wir hier für euch gesammelt.
Danke für diesen Thread. Wir überlegten vor einigen Jahren, unsere Kinder auf eine Waldorfschule zu schicken, und entschieden uns dagegen. Noch oft kam die Unsicherheit, ob das die richtige Entscheidung war. Nach nahezu ALLEM was ich über Waldorfschulen lese, denke ich: ja, wars!
— Ines (@mitgebloggt) March 21, 2022
Danke. Meine Tochter war 1 Jahr auf der Waldorfschule- jetzt sind wir seit ca 1,5 Jahren auf der ganz normalen kleinen Dorfschule und superglücklich. Beste Entscheidung
— ENZETT 💙💛 (@POLEXENA) March 22, 2022
Wenn ich so etwas lese, fühle ich mich in meinen Befürchtungen sehr bestätigt.
K 1 u 2 waren im Waldorfkiga, ich im Vorstand. Fand da einiges schon suspekt. Also K in Regelschule angemeldet. Zwischendurch waren sie auf eigenen Wunsch 2 Jahre auf der Waldorschule.
Sind geheilt!— Maré Elmys 🌻 (@ElmysMare) March 21, 2022
Das Problem sind die staatlichen Schulen. Ich war auf einer Gesamtschule und will für mein Baby etwas anderes. Ein besseres, pädagogisch sinnvolles Konzept, das die intrinsischen Motivationen fördert und nicht unterdrückt. Nach ausgiebiger Recherche wird es jetzt Montessori.
— Mariselja 🌍🌡🌪⌛Ⓥ (@mariselja) March 21, 2022
Bei dem Sohn hat es dann gar nicht geklappt mit dem Abi. Er schaffte es nicht dem plötzlichen massiven Druck des Lernens stand zu halten. Immerhin hat er FOR 🤷🏼♀️
— nivnleque (@nivenleque) March 21, 2022
Danke für das Teilen dieser Erfahrung. Jahrelang hatte ich beim Thema Waldorf ein ungutes Gefühl, was mir aber immer wieder abgesprochen wurde. Waldorf zu kritisieren, noch dazu nur mit einem Gefühl, war irgendwie in meinem Bekanntenkreis nicht angesagt. Das hier bestätigt mich👍🏼
— Esther Grünwald (@GrunwaldEsther) March 21, 2022
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit. Wo wir gerade von Schule sprechen, schaut doch hier mal rein: