Thread: Weltweit haben Mediziner gerade Angst
Für das Personal im Gesundheitswesen stellt die Corona-Krise den medizinischen GAU dar. Das betrifft nicht nur Pflegepersonal sondern auch Ärzte. Die Ressourcen sind knapp, es müssen viel häufiger lebenswichtige Entscheidungen getroffen werden als sonst und die Zeit arbeitet gegen einen. Rettungssanitäter Christian A. S. Knitter hat dazu diesen sehr wichtigen Thread verfasst.
Ich habe mit mir gehadert, aber um die Wut und Ohnmacht zu verarbeiten, die mich nach gewissen tweets und posts in sozialen Medien heute erfasst haben, muss ich mal etwas zum Thema Triage und COVID-19 loswerden:
— Christian A. S. Knitter (@c_knitter) March 29, 2020
Weltweit haben Mediziner gerade Angst wie selten zuvor. Angst vor dem Mangel an Ressourcen, der auf sie zukommt und Angst vor den Entscheidungen, die sie dann treffen müssen. Niemand freut sich darauf. Aber ihr Anspruch ist es, möglichst vielen möglichst gut zu helfen.
— Christian A. S. Knitter (@c_knitter) March 29, 2020
Das kann aber bedeuten, nicht mehr zu versuchen, jedem alles zu bieten, was sonst üblich wäre, weil dann niemand genug abbekommt. Eine so einfache, wie unschöne Rechnung. Wir kennen das schon lange aus der Kriegs- oder Katastrophenmedizin.
— Christian A. S. Knitter (@c_knitter) March 29, 2020
In einigen Ländern gehen gerade Ärzte und Pflegekräfte psychisch daran zu Grunde. Und auch hierzulande hat das Priorisieren begonnen. Bsp. Pneumokokken-Impfung: Es gibt nicht genug Impfstoff für alle, die wir laut STIKO-Empfehlung gerne impfen würden…
— Christian A. S. Knitter (@c_knitter) March 29, 2020
… also schützen wir wenigstens die, die statistisch am meisten davon profitieren: Die Ältesten und am relevantesten Vorerkrankten.
Was aber, wenn der Mangel auch in der Akutversorgung ankommt? Teilweise hätte man dafür schon vor Tagen/Wochen vorsorgen müssen.— Christian A. S. Knitter (@c_knitter) March 29, 2020
In meinem Freundeskreis sind Ärzte an dem Anspruch verzweifelt, trotz absehbarer Engpässe alles wie gewohnt weiterlaufen zu lassen. Durch elektive Eingriffe etc. Ressourcen zu binden, die später für lebensrettende Behandlungen gebraucht werden, kam ihnen zutiefst unmoralisch vor.
— Christian A. S. Knitter (@c_knitter) March 29, 2020
Wenn man nun entscheiden muss, wer behandelt wird und wer nicht, darf dies eben keine Entscheidung im Einzelfall sein, sondern es müssen im Vorfeld nachvollziehbare Kriterien hierfür erarbeitet werden. Sonst haben wir hinterher eine Generation von traumatisierten Medizinern.
— Christian A. S. Knitter (@c_knitter) March 29, 2020
Weil Entscheidungen über Leben und Tod eben nicht spurlos an medizinischem Personal vorbeigehen, hat man sich für den Massenanfall an Verletzten, etwa bei Unfällen, auf Sichtungsalgorithmen geeinigt. Evidenzbasiert, fair und mit weniger kognitiver und moralischer Belastung…
— Christian A. S. Knitter (@c_knitter) March 29, 2020
… für denjenigen, der sich in der unglücklichen Lage sieht, entscheiden zu müssen. Für Pandemien haben solche Festlegungen über Kriterien im Vorfeld schon 2002 besonders von SARS betroffene Kliniken gefordert. Triage ist also nicht der feuchte Traum vieler Ärzte, sondern…
— Christian A. S. Knitter (@c_knitter) March 29, 2020
…ein Horror, den sie gerne vermeiden oder wenn nötig, zum Wohle möglichst Vieler so moralisch wie möglich gestalten möchten. Sie in dieser Zwangslage mit Nazi-Vergleichen noch zusätzlich unter Druck zu setzen, kann ich beim besten Willen nicht akzeptieren.
— Christian A. S. Knitter (@c_knitter) March 29, 2020
Moraltheoretische Gedankenexperimente, mit denen sich jeder mal in diese Lage hineindenken kann, gibt es zur Genüge und wer offensichtlich nicht dazu bereit ist, sich damit ehrlich zu befassen, sollte sich derzeit solcher Kommentare enthalten.
— Christian A. S. Knitter (@c_knitter) March 29, 2020
Hunderte bewundernswerte Pflege-, Rettungskräfte und Ärzte, die sich gerade und in den kommenden Wochen aufreiben, um ihnem Ethos gerecht zu werden, wären dankbar, nicht noch durch solche Schmähungen in Verruf gebracht zu werden.
— Christian A. S. Knitter (@c_knitter) March 29, 2020
Also wenn Sie sich von meinem Text zu weiteren Abfälligkeiten provoziert sehen, leisten Sie bitte Ihren bescheidenen Beitrag in der Krise und schweigen Sie einfach mal.
Danke!#sorrynotsorry— Christian A. S. Knitter (@c_knitter) March 29, 2020