Thread: Ich fuhr eben am Jobcenter vorbei
Knapp 6,9 Millionen Menschen in Deutschland haben bis zum Ende 2019 Leistungen der sozialen Mindestsicherung erhalten und das war vor Corona wohlgemerkt. Die Zahlen für das Jahr 2020 werden erst in ein paar Monaten vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht. Wer einmal beim Jobcenter gelandet ist und somit Transferleistungen der sozialen Mindestsicherungssysteme in Anspruch genommen hat, weiß, wie ungemütlich das sein kann. In der Theorie sind finanzielle Hilfen des Staates, die zur Sicherung des grundlegenden Lebensunterhalts dienen, ja eigentlich eine gute Sache. In der Praxis bleibt oft von dieser guten Grundidee nicht viel übrig.
Sicher, Hartz-4-Leistungen zu beziehen, ist besser, als gar kein Geld zu haben. Aber der Weg dahin ist ein bürokratischer Spießrutenlauf. Doch das, was danach kommt, ist auch nicht viel besser. Denn als Leistungsempfänger hat man nämlich eine Mitwirkungspflicht. Dabei geht es nicht nur um obligatorische Termine und Gespräche mit seinem Sachbearbeiter, sondern man muss auch Weiterbildungsmaßnahmen und Stellenangebote wahrnehmen bzw. zu Vorstellungsgesprächen erscheinen, da einem sonst eine Sperre droht oder zumindest eine Kürzung der Leistungen. Selten entsprechen die angebotenen Jobs jedoch der Qualifikation oder persönlichen Eignung des Leistungsempfängers und seinen Wünschen schon gar nicht. Nun könnte man argumentieren, dies sei gut so, weil es einen motiviert, dass man sich selbst um eine neue Arbeitsstelle kümmert. Aber seien wir doch mal ehrlich, eine Vermittlung, die ungeeignete Stellen unter Androhung von Sanktionen vorschlägt, macht doch eigentlich keinen Sinn, oder? Der Twitteruser @Gedankenbalsam hat seine Erfahrungen mit dem Jobcenter noch einmal Revue passieren lassen und zu diesem Thread verarbeitet.
Ich fuhr eben an dem Jobcenter vorbei, in dem man mich damals sanktionierte, weil ich fand, dass ich zu gut qualifiziert sei, um in 3-Schicht an Bahngleisen Bauarbeiter mit einer Hupe vor nahenden Zügen zu warnen, und wie von allein klappte mein Mauschinenbauermittelfinger aus.
— Herr Balsam (@Gedankenbalsam) May 6, 2021
Absurde Randnotiz:
Mir wurde damals im Jobcenter gesagt, man könne mich im Bereich Maschinen-/ Werkzeugbau nicht mehr unterbringen, da ich zwischendurch 10 Jahre etwas anderes gemacht hätte und die Regel gelte, 7 Jahre aus dem Beruf raus ist so, als hätte man ihn nie gelernt.— Herr Balsam (@Gedankenbalsam) May 6, 2021
Randnotiz-Randnotiz:
Obwohl meine jetzige Firma sehr aktiv nach neuen Mitarbeitern sucht, bin ich der Einzige der in 6 Jahren fest eingestellt wurde, da bisher kein Bewerber genug Fachwissen und Fähigkeiten für speziell unseren Job mitbrachte, um die Probezeit zu überstehen.— Herr Balsam (@Gedankenbalsam) May 6, 2021
Überflüssig zu erwähnen, dass ich meinen Arbeitgeber nicht mit Hilfe des Jobcenters gefunden habe, oder?
Von wegen »Das ist jetzt so, als hätten Sie das nie gelernt.«Am Arsch, Ihr Penner.
Sanktioniert Euch ins Knie.— Herr Balsam (@Gedankenbalsam) May 6, 2021
Ich merke, die Erinnerung an das alles macht mich immer noch ziemlich zornig.
In den fast drei Jahren, in denen ich im Jobcenter regelmäßig zu Kreuze kriechen musste, habe ich alles über Demütigung gelernt, was ich für den Rest meines Lebens wissen muss.— Herr Balsam (@Gedankenbalsam) May 6, 2021
Das sagen andere User:
Auf diesen vergleichsweise sehr kurzen Thread gab es zahlreiche Reaktionen. Die meisten sind von Lesern, die selbst schon schlechte Erfahrungen mit dem Jobcenter gemacht haben. In ihren Kommentaren berichten sie vom Sinn bzw. Unsinn der Vorschläge, die ihnen unterbreitet wurden und wie sie letzten Endes aus eigener Kraft den Weg in den Arbeitsmarkt zurückfanden. Wir haben ein paar der besten Antworten hier für euch gesammelt.
Ich kenne das Gefühl, die Leute beim Jobcenter waren für mich nutzlos aber wenigstens nett. Musste nach 8 Jahren Bundeswehr nen Job suchen, das war eine Qual trotz Techniker.
— Sabro (@S4br085) May 6, 2021
Habe nach Ausbildung, 5 Jahren im Beruf und abgeschlossem Studium 12 „Jobvorschläge“ als Zeitarbeits-Lagerhelfer erhalten. Ich kann Ihre Gefühlslage diesbezüglich nachvollziehen und strecke solidarisch auch noch mal den Finger raus.
— 🆂🅿🅰🅲🅴🅰🅿🅴 ♥ bleibt aufm Baum ♥ (@_sinewave_) May 6, 2021
Entweder demütigend und herablassend oder völlig hilflos. Meine Erfahrung letztere: „Historikerin? Haben wir nicht in der Liste. Können Sie auch Chemikerin? Ach, kaufm. Ausbildung? Zu lang her (7 J.) und jetzt überqualifiziert. Gehnse heim und machen Sie sich ne schöne Zeit“ 🤦♀️
— Die Hilke 🍷 (@DieHilke) May 6, 2021
Jedes Mal, wenn ich bei denen (und beim Arbeitsamt) in der Maschinerie drin war und dank eines Jobs wieder rauskonnte, war es mir eine Genugtuung, bei der Veränderungsmitteilung bei der Frage, ob man den Job mithilfe des Amts gefunden habe, nein anzukreuzen.
— Deichgräfin Erna (@erna_unplugged) May 6, 2021
Nicht falsch verstehen, ich bin dankbar für das Netz, das wir in D haben. Aber die haben mir noch nie dabei geholfen, was Neues zu finden. “Oh, als Anglistin werden Sie nix finden” – es war zwar nicht das Studium allein, aber es hat mit dazu beigetragen, dass ich meinen Job habe.
— Deichgräfin Erna (@erna_unplugged) May 6, 2021
Ach das Jobcenter.
„Was haben Sie gelernt?“
Ich bin Diplom-Humanbiologin und ich promoviere grade in Tumorpharmakologie“
Ich bekam Stellen, für die ich mich bewerben sollte. 5.
4 als Apothekerin.
1 als Übersetzerin für Politik-Wissenschafts Texte bei der Deutsch-Türkischen— Dani Gutsch (@DaniGutsch) May 6, 2021
Gesellschaft.
Fun Facts:
-Um Apotheker:in zu sein, muss man schon PharmaZIE studiert und die entsprechendenden Examina haben. Hab ich nicht.
-Ich spreche nicht türkisch. Deutsch. Englisch. Bisschen Russisch.Ich fühl sie, Herr Balsam! Sehr.
— Dani Gutsch (@DaniGutsch) May 6, 2021
Das Jobcenter sollte mir damals helfen, eine Lehrstelle zu finden. Die haben gefragt was ich machen möchte, ich sag MFA oder in Richtung tiermedizin. Was kommt für ein Angebot?
Gabelstaplerfahrer 🤦🏻♀️— Julie (@Black_Fairytale) May 6, 2021
Das ist leider so verankert. Man muss jede Tätigkeit annehmen. Habe ich auch hinter mir. MA in Psychologie aus den USA, aber schon über 60. Und dann hat man mir ne Teilzeitstelle als Bedienung in einem Ausflugsrestaurant hier am Mittellandkanal angeboten
— Darksun?Wassollndasnuwieder (@Darksun50355759) May 6, 2021
Und dann habe ich mich selbstständig gemacht. Ich spreche 3 Sprachen. Eine davon Türkisch. War gute Entscheidung bei der Migrantenkrise. Jetzt bin ich 67, hab kaum noch freie Termine. Läuft….
— Darksun?Wassollndasnuwieder (@Darksun50355759) May 6, 2021
Vielen Dank, dass ihr bis zum Schluss geblieben seid. Für die Lesehungrigen unter euch haben wir noch diesen Thread hier verlinkt: