„Niemand braucht noch mehr Missgunst, noch mehr Häme, noch mehr Hass.“

Max Kilian 24.11.2024, 6:45 Uhr

Es gibt in diesem Land ein Thema, über das meist lieber nicht gesprochen wird. Das eher unter den Teppich gekehrt wird, weil sowas vielleicht im Ausland Realität ist, aber doch nicht bei uns. Ein Thema, das selbst im Wahlkampf nur mit der Kneifzange angefasst wird und das hinter nahezu allem anderen zurückfällt. Was es nicht geben darf, gibt es schließlich auch nicht. Und doch sollten wir uns gerade in der anstehenden Vorweihnachtszeit vor Augen führen, dass es Millionen Menschen in diesem Land gibt, die praktisch von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind.

Leidtragende sind dabei in erster Linie die Kleinsten, denn es geht um Kinderarmut. Jedes siebte Kind ist in Deutschland armutsgefährdet oder lebt bereits in Armut. Wer sich nun darunter vorstellt, dass man sich halt nicht jedes Jahr das neueste iPhone kaufen kann: Weit gefehlt! Denn es geht um so viel mehr, wie der folgende Thread von @calistra eindrucksvoll aufzeigt.

Was ich früher vom Kindergeld bezahlt habe:
Kleine Rücklagen für die Kinder, Anschaffungen wie Möbel oder Kleidung nach Wachstumsschub, mal ein Spielzeug, Sachen wie Knete, Bastelzeugs, Ausflüge, die sonst nicht drin gewesen wären.

Was ich heute vom Kindergeld bezahle: (1/10)

So luxuriöse Sachen wie Bananen, Klopapier oder eine Busfahrkarte.
Denn das Kindergeld wird beim schon knappen Bürgergeld als Einkommen berücksichtigt und wird somit zum Leben benötigt.
Also: Kein Klamottenshopping,keine Ausflüge, keine neuen Möbel oder Bastelexzesse für

meine Kinder. Von Rücklagen will ich gar nicht erst anfangen.

Warum? Weil ich Bürgergeld beziehe.

Wer da von Chancengleichheit spricht, hat schlicht und einfach keinen Überblick über die Situation armer Menschen in Deutschland. Und schon gar nicht über Kinderarmut.

Kinderarmut bedeutet, exakt ein Paar Schuhe zu besitzen, wenn man Glück hat, passend für die Jahreszeit.

Kinderarmut bedeutet, nicht zum Friseur zu gehen, keine hippen Klamotten zu besitzen, Trendspielsachen nur aus dem Fernsehen oder von Freunden zu kennen.

Kinderarmut bedeutet,zu essen,was auf den Tisch kommt,wenn man satt werden will,bei Geburtstagseinladungen nervös zu werden,weil sie Kosten verursachen und lange Fußwege gewöhnt zu sein,weil eine Fahrkarte nicht immer drin ist.

Nach einem Eis fragt man gar nicht mehr.

Kinderarmut bedeutet auch, Wünsche für sich zu behalten, weil man niemandem zur Last fallen möchte. Bei der Auswahl der Brille das billigste Modell am besten zu finden (bis Mama es merkt und die Preisschilder zuhält) und das letzte Stück Kuchen nicht zu wollen, weil die

kleine Schwester traurig guckt.

Kinderarmut ist ein trotzig vorgerecktes Kinn, wenn man behauptet, auf Markensachen nichts zu geben, wen interessiert das schon, welche Marke das ist, ICH finde meine Sachen schön. 

Kinderarmut ist das Gegenteil (7/10)

von Privatsphäre. Niemals Ruhe, immer im Gewimmel, Hausaufgaben im Wohnzimmer und ständiges Beschützen persönlicher Gegenstände, weil man keinen geschützten Raum hat. 

Kinderarmut ist der sehr kurze Wunschzettel, wenn man schließlich die Sache mit 

(8/10)

dem Christkind durchschaut hat. 

Schließlich ist Kinderarmut auch die Hinwendung zum Kapitalismus. Wir werden es mal besser haben, ich will Geld, viel Geld, und dann kaufe ich uns ein Haus, ein großes Haus, mit Garten, und wir machen Ferien, wir fliegen, endlich, Mama, 

(9/10)

vielleicht nach Japan, oder ans Meer? 

Ich weiß das, weil ich es erlebt habe. Mich hochgekämpft habe. Abgestürzt bin.  Und nun alles wiedererkenne. Mit erschreckender Präzision. 

Kinderarmut gehört abgeschafft. Egal, woraus sie erwächst.

(10/10)

Kommentare und Reaktionen:

Der überwiegende Teil der Userinnen und User reagierte mit Empathie und zeigte sich dankbar für die ehrliche Schilderung einer Betroffenen. Denn vielen ist klar, wie schnell es einen unverschuldet selbst treffen kann. Was ebenso deutlich wird, ist die Tatsache, dass wir in diesem Land und unserer Gesellschaft das Thema Kinderarmut viel sicht- und fassbarer machen müssen!

Liebe Sabrina, das ist ein beeindruckender Tweet. Er wird auch einigen Menschen auf der Sonnenseite des Lebens den Blick schärfen für die alltäglichen Probleme und Empfindungen der Betroffenen.

Vielen Dank. 

Wichtig ist:
Wir sind kein Einzelfall. Ich leide nur lauter. Es gibt so viele Menschen, denen es ähnlich ergeht, die es aber lieber für sich behalten.

Das ist ein Thread, den ich nicht so bald vergessen werde. Danke dafür. (Und sehr gut geschrieben, ohne gönnerhaft klingen zu wollen.)

Lob aus berufenem Munde nehme ich immer gern. 

Danke.

Die Autorin des Threads hat am Ende auch noch ein paar Worte an die Userinnen und User zu richten

Nach diesem Thread habe ich viel Zuspruch und Unterstützung erfahren. Dafür allen vielen Dank ❤️.

Wenn ihr selbst betroffen seid: Seid laut! Teilt eure Erlebnisse und Sorgen, soweit ihr könnt, denn offensichtlich ist vielen gar nicht klar, wie die Realität aussieht,so ganz

bar jeglicher Sozialromantik. Kinderarmut muss sichtbar werden, dauerhaft und direkt.

Und wenn ihr helfen könnt: Tut es! Jede Kleinigkeit zählt. Wer sich nicht direkt mit Hilfesuchenden vernetzen möchte, kann sich an 
@sorgeweniger
 wenden.

Solltet Ihr jedoch Zweifel haben, ob die Person eure Hilfe verdient:Fragt höflich nach. 

Oder ihr vertraut einfach darauf, dass niemand freiwillig so lebt. 
Die Mär vom fröhlichen Bürgergeldempfänger, der seine Tage chillig vor dem Fernseher verbringt, während ihr arbeitet, ist

genau das: Ein Märchen, gewoben aus Vorurteilen und genährt durch die immer gleichen klischeehaften Darstellungen. 

Und zu guter Letzt: Solltet Ihr der Meinung sein, es läge ja an jedem selbst, ob man arm sei oder eben nicht, habt wenigstens den Anstand

und lasst die Menschen in Ruhe. Niemand braucht noch mehr Missgunst, noch mehr Häme, noch mehr Hass. 

Es mag euch nicht immer bewusst sein, aber alles Glück im Leben. ob nun materieller oder emotionaler Natur, ist nur eine Leihgabe. Es könnte von heute auf morgen zu Ende sein.
Es ist nicht nur die Kinderarmut, über die gesprochen werden muss:

„Wenn ihr mitbekommt, wie arme Menschen gedemütigt werden …“

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