Thread: Vater-Tochter-Beziehungen und die Rolle der Jungfräulichkeit
Die Personenkonstellation in einer (kirchlichen) Hochzeit war in unserem mitteleuropäischen Verständnis recht lang eine unzweideutige Angelegenheit. Im Mittelpunkt standen unumstößlich: die Braut und der Bräutigam. Es gab noch einen zweiten Mann, der eine dominierende Rolle im Zeremoniell der Eheschließung einnahm: Der Vater der Braut. Er führte seine Tochter zum Altar und übergab sie dort ihrem zukünftigen Ehemann. Die Braut trug weiß, der Bräutigam, nun ja, nicht.
Symbolisch aufgeladen, wie Religionen sind, können wir aus diesen Traditionen ein paar Gedanken ableiten. Zunächst einmal: Die Braut hatte „rein“ (weiß), also unberührt, zu sein und das sollte auch jeder sehen. Bewacht wurde diese Jungfräulichkeit von ihrem Vater, der bis auf den letzten Schritt Sorge trug, dass es auch dabei blieb. Danach kümmerte sich sozusagen ein anderer um die Angelegenheit.
Viele von uns empfinden diese Traditionen heute als altmodisch. Sicher, es gibt eine Menge Tamtam um Hochzeitskleider, aber davon abgesehen dürften die wenigsten Bräute Wert auf Jungfräulichkeit legen. Sie schaffen nicht nur die Meter bis zum Altar (wenn es denn einen gibt) allein, sondern auch alle anderen Wege. Sie suchen sich Partner (oder Partnerin) selbst oder entscheiden sich gegen das Konzept einer Beziehung. Die Aufgabe der Väter besteht bei einer Hochzeit häufig eher darin, nicht negativ aufzufallen.
Ohne Frage, die Emanzipation trägt so langsam Früchte. Und doch ist die Vorstellung, dass die Frau und ihre Jungfräulichkeit eine Art Tempel sind, noch nicht völlig ausradiert. Wie viele Späße, in denen der Vater beim Besuch des ersten Freundes seiner Tochter die Schrotflinte zückt oder zumindest ein Verhör einleitet, geistern noch heute durch Elternsmalltalks?
Twitteruserin @journelle hat sich mit dem Thema befasst und beschreibt auf Twitter den Unterschied zwischen toxischen und gesunden Vater-Tochter-Beziehungen.
In meiner Jugend schlief meine Freundin E. sehr oft am Wochenende bei uns. Hintergrund war, dass wir so gemeinsam weg gehen konnten. Meine Eltern bezahlten uns das Taxi und kontrollierten nicht, wann und mit wem wir heimkamen.
— Journelle (@journelle) September 6, 2020
Wir waren ohnehin recht brav, keine Drogen außer Alkohol, wenig Exzesse, kein Trampen oder sonst etwas. Einfach abends zu einer Party oder in die Disko (so hieß das bei uns). Ich knutschte damals maximal vor Ort mit Jungs rum. E. brachte aber von einer Feier mal einen Jungen mit.
— Journelle (@journelle) September 6, 2020
Sie schliefen im Gästezimmer, ich in meinem Zimmer. Morgens saßen wir alle beim Frühstück. Mein Vater, meine Mutter und womöglich auch mein großer Bruder. Völlig entspannt. Meine Mutter schien sich sehr zu freuen, weil sie neue Menschen am Tisch immer spannend fand.
— Journelle (@journelle) September 6, 2020
Als ich einen festen Freund hatte, schlief der selbstverständlich auch regelmäßig bei uns und die einzige Bedienung war, pünktlich zum Frühstück (8/9 Uhr) zu erscheinen.
— Journelle (@journelle) September 6, 2020
Nicht einmal musste ich mir bezüglich meiner Sexualität einen dummen Spruch anhören. Die Männer, die ich mitbrachte wurden insgesamt freundlich empfangen.
— Journelle (@journelle) September 6, 2020
Es gab zuweilen Kritik von meinem Vater, die sich aber eher darauf bezog, ob sie mich gut ernähren können. Ich machte ihn dann aber gern auf sein etwas retardiertes Weltbild aufmerksam und dann war es auch ok.
— Journelle (@journelle) September 6, 2020
Meinem Vater wäre es jedenfalls niemals eingefallen, meine Beziehungen und mein Sexualleben öffentlich zu diskutieren.
— Journelle (@journelle) September 6, 2020
Diesen Freiraum in meiner Familie spürte eben auch E., die dann lieber bei uns war, als sich mit ihrer in dieser Sache unangenehmen Familie auseinandersetzen zu müssen.
— Journelle (@journelle) September 6, 2020
Insofern zieht sich bei mir alles zusammen wenn ich von Vätern lese, die sich übergriffig über die (sexuellen) Beziehungen ihre Teenie-Töchter lese. Das ist so eklig auf so vielen Ebenen.
— Journelle (@journelle) September 6, 2020
Zunächst einmal der doppelte Standard: Sorge um die Tochter, Stolz auf den Sohn. Hier wird ganz klar deutlich, dass innerhalb einer Familie unterschiedliche Messlatten angelegt werden.
— Journelle (@journelle) September 6, 2020
Klar ist es richtig, dass Mädchen mehr passiert als Jungs aber der Erziehungsauftrag sollte dann doch heißen:
Bring dem Mädchen vor allem bei, klar zu sagen was es will und Grenzen zu setzen und dem Jungen Grenzen zu akzeptieren und Konsens als Grundlage zu verstehen.— Journelle (@journelle) September 6, 2020
Ein Vater, der pseudobedrohend auf einen Jungen zugeht, den das Mädchen nach Hause bringt, zeigt damit doch nur, dass er seine Tochter für unfähig und alle Männer für Täter hält.
— Journelle (@journelle) September 6, 2020
In einem Alter, in dem Eltern für die meisten Jugendlichen total peinlich sind, ist so ein Verhalten der Gipfel an unangenehm und wird dazu führen, dass sich die Tochter zurückziehen wird.
— Journelle (@journelle) September 6, 2020
Damit verliert der Vater a) die Möglichkeit ggf. die Tochter tatsächlich zu beschützen, weil er nie erfahren wird, was sie macht b) er verliert seinen Status als Vertrauter, falls er ihn jemals hatte.
— Journelle (@journelle) September 6, 2020
Ebenfalls befremdlich-eklig finde ich die Vorstellung, dass der Vater irgendwas bei der Sexualität seiner Tochter mitzureden hätte. Es klingt immer so als würde er sich mit dem Freund auf eine Ebene stellen, als würde ER sie an den nächsten übergeben.
— Journelle (@journelle) September 6, 2020
Nein, Heinz, das ist deine Tochter und ihr Freund ist nicht dein jugendliches Alter Ego. Diese Vorstellung ist nicht gesund und da kannst du noch so viele Tweets dazu in die Öffentlichkeit posaunen. Du bist einfach ein unangenehmer Schmierlappen.
— Journelle (@journelle) September 6, 2020
Und ja. Ich schreibe hier von cus
cis-her Situationen. Einfach weil die besagten Tweets auch darüber schreiben und alles andere sowieso jenseits ihres Geistes liegen.— Journelle (@journelle) September 6, 2020
Ich habe oben (ungewollt) eine ableistische Bezeichnung gewählt. Zukünftig werde ich nur noch altbacken sagen/schreiben. Sorry und danke fürs aufmerksam machen.
— Journelle (@journelle) September 6, 2020
„cus cis-her Situationen“ wo auch immer ich da gerade war (ich weiß es im Bad zwischen Fragen von Mann und Kindern).
Soll heißen: cis-het Situationen.— Journelle (@journelle) September 6, 2020