Thread: Helfen, statt wegsehen
Der nachfolgende Thread von @Traumwanderer erreichte uns letzte Woche und sei jedem ans Herz gelegt.
Während ich bei geöffnetem Fenster am Schreibtisch saß, hörte ich aus einiger Entfernung ein Rufen.
»Hallo, hallo.«
Das rufen wurde eindringlicher.
»HALLO, HALLO, HALLO.«
Es ließ mir keine Ruhe, ich zog meine Schuhe an und ging Richtung Straße.
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— Traumwanderer (@Traumwanderer) 9. Juni 2019
Die angrenzende Straße bog ich rechts ab, immer weiter geradeaus, den mittlerweile weinerlichen Rufen folgend.
Nach ca. 200m sah ich einen kauernden Mann am Boden.
Das Gesicht blutüberströmt, er hielt sich, gekrümmt vor Schmerzen, das unnatürlich abgewinkelte linke Bein.
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— Traumwanderer (@Traumwanderer) 9. Juni 2019
Noch bevor ich ihn angesprochen habe, wählte ich den Notruf und schilderte die Situation.
Es wurde mir zugesagt, dass sofort ein Einsatzwagen losfahren würde.Ich sprach den Mann an, er sprach gebrochen Englisch. Er war gestolpert und unglücklich auf sein Gesicht gestürzt.
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— Traumwanderer (@Traumwanderer) 9. Juni 2019
Ich versuchte ruhig auf den Mann einzureden, teilte ihm mit, dass ich »around the corner« wohne und kurz Wasser und Tücher für ihn holen werde, der Einsatzwagen würde gleich eintreffen.
Ich rannte los und war nach 2 Minuten zurück.
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— Traumwanderer (@Traumwanderer) 9. Juni 2019
Seinen Kopf legte ich vorsichtig auf ein Kissen, bis dahin lag sein Kopf auf Pflastersteinen.
Ich fragte ihn, ob ich ihm ein wenig das Blut von Nase und Mund abtupfen dürfe, er bejahte.Der Krankenwagen traf ein und die freundlichen Sanitäter übernahmen.
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— Traumwanderer (@Traumwanderer) 9. Juni 2019
Der Mann [ca. 65 J.] sagte mir, dass er aus Marokko stamme und seine Kinder besuche, die seit 15 Jahren in Deutschland leben.
Nebenbei: Tochter arbeitet als Kinderärztin, Sohn ist Java-Entwickler.
So weit zur Hauptgeschichte, nun zur Nebenhandlung.
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— Traumwanderer (@Traumwanderer) 9. Juni 2019
Der Unfall des Mannes ereignete sich soeben, am frühen Nachmittag eines sonntags.
Der Mann lag keine 20m von einem gut besuchten Biergarten entfernt.
Es war unmöglich, seine Rufe nicht zu hören.Als ich bei dem Mann eintraf, wandten sich die Leute peinlich berührt ab.
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— Traumwanderer (@Traumwanderer) 9. Juni 2019
Ich rief diesen Wegsehern ziemlich laut entgegen:
»Halten Sie das für richtig, einem Hilfesuchenden nicht zu helfen?
Aber lassen Sie sich bitte nicht beim Bier stören.«In mir kochte alles über. Für diesen Mann, der vor mir am Boden lag, blieb ich ruhig.
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— Traumwanderer (@Traumwanderer) 9. Juni 2019
Und das bringt mich zu folgenden Gedanken.
Wir hören und lesen viel von Diskriminierung und Rassismus.
Zumeist geht es dabei um Äußerungen, nicht um Handlungen.
Ich frage mich, ob einem westlich aussehenden Menschen in der Situation geholfen worden wäre.
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— Traumwanderer (@Traumwanderer) 9. Juni 2019
Das bedeutet für mich, dass Leute, die sich »nur in Worten« fremdenfeindlich äußern, keine Scheu davor haben, dieser Fremdenfeindlichkeit auch Taten folgen zu lassen.
In diesem Fall weghören und einem bedürftigen Menschen nicht helfen.
Das finde ich grausam.
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— Traumwanderer (@Traumwanderer) 9. Juni 2019
Bitte lasst uns hinsehen und hinhören, wenn jemand Hilfe benötigt.
Erinnert sei hier auch an unser Grundgesetz, Artikel 3:
»Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft…
Danke fürs Lesen.
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— Traumwanderer (@Traumwanderer) 9. Juni 2019
Danke für die zahlreichen, überwiegend unterstützenden, Rückmeldungen.
Aufgrund der vielen ähnlich gelagerten Beispiele, möchte ich einen Hinweis ergänzen:
StGB § 323c
Unterlassene Hilfeleistung; Behinderung von hilfeleistenden Personen
Schade, aber notwendig.
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— Traumwanderer (@Traumwanderer) 10. Juni 2019
Heute Nachmittag habe ich den gestern gestürzten Mann im Krankenhaus besucht.
Sein Sohn und ein Enkel waren auch gerade da.
Ich wurde nach kurzem Hinweis des Mannes, wer ich bin, wie ein Familienmitglied begrüßt.
Die Szene hat mich sehr gerührt.
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— Traumwanderer (@Traumwanderer) 10. Juni 2019
Wie sich herausstellte, hat der Mann sich bei dem Sturz Nasenbein und Kieferhöhle gebrochen, daneben Schürfwunden im gesamten Gesicht und zwei Zähne verloren.
Die Kniegelenksverletzung konnte ich vom Begriff nicht zuordnen.Ich bin heute noch fassungsloser als gestern.
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— Traumwanderer (@Traumwanderer) 10. Juni 2019
Mit dem Sohn des gestürzten Mannes habe ich Mobilnummern ausgetauscht und bin eingeladen zu einer Familienfeier, wenn der Mann die Klinik verlässt.
Werde gerne hingehen.Schließe hier den Thread und danke euch für die vielen wertvollen Beiträge.
Helfen, statt wegsehen.
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— Traumwanderer (@Traumwanderer) 10. Juni 2019