Ich wollte nur wissen, wer mein Vater ist

Mein Vater ist tot. Einfach so. Ich habe nie eine Bindung zu ihm gehabt, ich habe nie etwas erwartet. Wie auch? Die erstrittenen Unterhaltszahlungen an meine Mutter waren der einzige Beweis seiner Existenz für 18 Jahre. Kein Brief, keine Karte, kein Kontakt. Als ich volljährig die Papiere vom Jugendamt bekam, suchte ich vorsichtig Kontakt. Ich war unvoreingenommen. Ich hatte keine Wut in mir. Neugier. Ich wollte wissen, wer und wie er ist. Mehr verstehen, wer ich bin, woher ich komme. 1/x

Hey, ihr Lieben. Heute widmen wir uns mal wieder einem etwas ernsteren Thema. Nicht jede Vatergeschichte beginnt mit „Mein Papa und ich“ – manchmal beginnt sie auch mit Schweigen. Mit Akten vom Jugendamt statt Postkarten zum Geburtstag. Mit der Frage, wie viel man von einem Menschen erwarten darf, der einen gezeugt, aber nie besucht hat. Und mit dem Versuch, trotzdem herauszufinden, wer man ist – und woher man kommt.

Was passiert, wenn der Kontaktversuch dann an Arroganz, Ablehnung und kaltem Schweigen scheitert? Wenn der Mensch, auf den man eigentlich nie gewartet hat, plötzlich stirbt – und seltsamerweise trotzdem eine Lücke hinterlässt? Dann bleibt oft mehr als nur Trauer. Es schließen sich Wut, Enttäuschung, Einsamkeit – aber manchmal auch Klarheit an. Und für manche ergibt sich daraus eine Kompasskorrektur fürs eigene Leben.

Viele solcher Gedanken hat @saskia.hassler in einem offenen und tief bewegenden Thread geteilt. Über einen Vater, den es eigentlich nie wirklich gab und eine Trauer, die trotzdem da ist. Ihren Text haben wir hier für euch verewigt.

Mein Vater ist tot. Einfach so.  Ich habe nie eine Bindung zu ihm gehabt, ich habe nie etwas erwartet. Wie auch? Die erstrittenen Unterhaltszahlungen an meine Mutter waren der einzige Beweis seiner Existenz für 18 Jahre. Kein Brief, keine Karte, kein Kontakt. Als ich volljährig die Papiere vom Jugendamt bekam, suchte ich vorsichtig Kontakt. Ich war unvoreingenommen. Ich hatte keine Wut in mir. Neugier. Ich wollte wissen, wer und wie er ist. Mehr verstehen, wer ich bin, woher ich komme. 1/x

2/x Die herbe Enttäuschung, einen sehr wohlhabenden, äußerst eitlen und herausgeputzten Kapitalisten im Porsche anzutreffen, der mich eher wie eine Maitresse in ein dunkles Café einlud, um mit seinen Errungenschaften, prominenten Freunden und Besitztümern vor mir anzugeben, hat mich damals nachhaltig mitgenommen und verstört.

3/x Wieso hatte ich eigentlich keinen Platz in diesem Leben?  Da war dieses andere, ältere Kind. Geliebt, auf Pferden, im Urlaub mit ihm, Teil seines Lebens, eine Halbschwester. Die nichts von mir wusste. Er zeigte mir das Bild von ihr nur ganz kurz. Ich wollte noch einmal danach greifen, doch er steckte es zurück in sein edles Leder-Portemonnaie.

4/x Er hat mich niemals vorgestellt (angeblich wissen die bis heute nicht von mir). Er hat sich geweigert, Unterhalt für mein Studium zu zahlen, weil er mich nicht gewollt hätte. Und er hat es geschafft, mich so zu beschämen und anzuekeln, dass ich damals auf eine Klage verzichtet habe und einfach nichts wissen wollte, von diesem Menschen, der mich so grundlos beleidigte und verletzte. Ich hatte keinen Neid auf seine Besitztümer, ich hatte keinen Groll, ich war einfach traurig und abgestoßen.

5/x Und ein halbes Leben verging. Ich bekam ein Kind, ich wurde Mutter, mein Leben war bunt und laut und anstrengend und die Trauer und die Enttäuschung über meine Eltern wurde zum Hintergrundrauschen der Vergangenheit. Kein Problem, kein Drama.

6/x Und gestern habe ich im Internet (!!!) erfahren, dass er verstorben ist. Und nach all den Jahren, in denen ich nichts erwartet habe, nichts von ihm brauchte, stelle ich fest, dass in mir trotzdem nie ganz die Hoffnung gestorben war, er käme doch noch zur Besinnung. Ein Brief vielleicht. Eine Karte? Ein Bild? Eine Bedeutung?

7/x Er ist gestorben, offenbar ohne seiner Familie von mir zu berichten. Er ist gestorben. Einfach so. Heimlich und niederträchtig, in hohem Alter, hat er mich auch hierbei ausgeschlossen und entmündigt. Wie als wäre es nicht trotzdem auch meine Biographie. Meine Sache.

8/x Und nach all den Jahren, in denen es mir so gleichgültig war, tut es jetzt so viel mehr weh, als ich mir erklären kann.  Ich beende die Geschichte mit einem Witz, obwohl ich weine.
✨Mein Vater stirbt nicht einfach, mein Vater ghosted jetzt einfach beide Kinder.✨
Stil R.I.P., M@therfoo€&er.
Alles was ich vom Leben wirklich will, ist kein Kind jemals SO zu hinterlassen, nicht wie er zu sein. Und das ist irgendwie auch ein Kompass, den einem ein Vater mitgeben kann.

Ich bin nach 24h in der Shrimp-Stellung überwältigt und auch etwas überfordert von der Flut an Kommentaren. Ich danke Euch von Herzen für das Mitgefühl, die Worte, Anteilnahme. Ich kann nicht jedem antworten, zumindest nicht jetzt. Ich habe das letzte Nacht geschrieben. Nur 3 Stunden nachdem ich es erfahren habe. Und obwohl es schmerzhaft persönlich ist, bedeutet es für mich: Schluss mit dem Geheimnis - nach all der Zeit, in der ich unfreiwillig zu einem gemacht wurde. Deswegen danke fürs lesen.

Kommentare und Reaktionen:

Ihre Geschichte hat bei vielen einen Nerv getroffen. Die Reaktionen reichen dabei von ehrlicher Anteilnahme über eigene, ähnlich schmerzhafte Erlebnisse bis hin zu einem kollektiven Gefühl von „Du bist nicht allein“.

Sehr richtig

Bitte geh zur Beerdigung, und erzähle allen wer du bist. Gib ihm nicht die Genugtuung dich vor seiner Familie versteckt zu haben

Das trifft den Nagel auf den Kopf

Ich glaube, man trauert in dem Fall nicht um den Vater, den man hatte, sondern den, den man hätte haben können. Mein Beileid auf jeden Fall. Und: nicht aufs Erbe verzichten 🌸

Sehr guter Vorschlag

Traurig, aber ich würde an deiner stelle folgendes tun.  Kleide dich in einem schwarzen kleid mit einem schwarzen schirm (egal was für wetter) und einer schwarzen sonnenbrille und stell dich abseits bei der beerdigung so hin dass dich trotzdem alle sehen. Sodass jeder denkt wer du bist und was für geheimnis er hatte. Und dann gehst du wortlos bevor alles vorbei ist. Und verzichte ja nicht aufs erbe

Möglich wäre es natürlich

Aber es könnte ja jetzt auch die Gelegenheit sein eine Bindung zur Halbschwester aufzubauen. Es ist nicht deine Schuld, dass er dich zum Geheimnis erklärt hat. Du musst das nicht (mehr) mittragen, wenn du das nicht willst.

Ein Zeichen von Stärke

Es gehört Größe dazu, so sachlich über einen Menschen zu schreiben, der sich so schäbig aus seiner Verantwortung gestohlen hat und dir soviel Schmerz und Zweifel zugeführt hat. Du wirst deinen Wunsch komplett anders mit deinem Kind umzugehen Wirklichkeit werden lassen. Da bin ich mir sicher. Eins noch, qua Geburtsurkunde hast du Ansoruch auf den Pflichtteil des Erbes (Hälfte des gesetzlichen Anteils). Auch wenn du das nicht für dich willst, denke auch hier an dein Kind.

Richtig

Deine Geschichte ist noch nicht zu Ende.

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