Thread: Zum ersten Mal im Mathematikunterricht hatte ich Angst
Die Mathematik ist der Kaktus unter den Schulfächern: Einige wenige lieben sie, aber viele kommen ihr lieber nicht zu nahe. Oft ist schon in der Grundschule klar, in welche Richtung die Reise geht. Wer in den ersten vier Schuljahren lernt, dass Zahlen schwierig und unverständlich sind und praktisch keinen anderen Zweck erfüllen, als einem das Gefühl zu vermitteln, nicht schlau genug zu sein, wird es schwer haben, je eine Leidenschaft für Mathematik zu entwickeln. Das ist schade. Nicht nur für eine Wissenschaft, die uns in praktisch jedem Lebensbereich begleitet und darüber hinaus die Grundlage für viele, viele andere wissenschaftliche Disziplinen ist. Sondern vor allem für Generationen an Schülerinnen und Schülern, für die jede einzelne Schulstunde Mathematik ein wahr gewordener Albtraum ist oder war.
Florian Aigner ist promovierter Physiker. Zahlen und logisches Denken spielen in seiner beruflichen Karriere eine große Rolle. Wenig überraschend sagt er von sich, dass er schon als Kind Spaß an Zahlen hatte. Und trotzdem hat auch er im Schulfach Mathematik schlechte Erfahrungen gesammelt. Besonders ein Erlebnis, das viele Jahre zurückliegt, zeigt, wie leicht auch er die Lust an der Mathematik hätte verlieren können. Dies ist sein Thread.
Darf man es als falsch werten, wenn ein Kind bei der Multiplikation die Zahlen in der umgekehrten Reihenfolge schreibt? Ich bin gestern in eine wilde Mathe-Unterrichts-Diskussion hineingeraten. Ein paar persönliche Gedanken dazu. (Thread)
— Florian Aigner (@florianaigner) April 22, 2021
Ich mochte Mathematik als Kind: Regeln, die logisch sind, die sich nicht einfach jemand nur so ausgedacht hat. Man erkennt: Es geht nicht anders. Es gibt eindeutige Lösungen und klare Antworten. Das ist schön, das schafft Sicherheit – und gleichzeitig Raum für kreatives Denken.
— Florian Aigner (@florianaigner) April 22, 2021
Ich erinnere mich aber noch heute an eine Mathematikstunde, die mir panische Angst bereitete. Es ging darum, Additionen zu visualisieren, indem man Punkte einkringelte.
— Florian Aigner (@florianaigner) April 22, 2021
Kein Problem! Ich löste das so:
— Florian Aigner (@florianaigner) April 22, 2021
Die Lehrerin meinte: „Ach schau, da links, die fünf Punkte, die sehen aus wie auf dem Würfel. Diesen schönen Würfel-Fünfer willst du doch nicht auseinanderreißen!“ Sie wollte es so:
— Florian Aigner (@florianaigner) April 22, 2021
Und zum ersten Mal im Mathematikunterricht hatte ich Angst. Die Sicherheit war weg. Was war passiert? Welche Regel hatte ich übersehen? Warum sind Würfelmuster wichtiger als andere? Gibt es noch andere wichtige Muster? Hilfe!
— Florian Aigner (@florianaigner) April 22, 2021
Die Lehrerin (es war eine Aushilfslehrerin, weil die Klassenlehrerin krank war) meinte das nicht böse. Sie wollte helfen. Hätte sie einfach gesagt: „Ja, passt, es gibt mehrere richtige Antworten. Man kann es zum Beispiel auch so machen“, dann wäre alles gut gewesen.
— Florian Aigner (@florianaigner) April 22, 2021
Aber so hat sie etwas ausgelöst, woran ich mich Jahrzehnte später noch erinnere: Frustration, Angst, Unsicherheit. Das Gefühl, keine Kontrolle zu haben. Das Schöne an der Mathematik – die logische Verlässlichkeit – war beschädigt.
— Florian Aigner (@florianaigner) April 22, 2021
Das war zum Glück kein bleibender Schaden. Aber ich frage mich: Wäre mein Mathematikunterricht so weitergegangen, mit dieser Sorte von Enttäuschungen, hätte ich dann je ein Mathe-Talent entwickelt? Hätte ich je Physik studiert und in Quantentheorie promoviert? Nein, sicher nicht.
— Florian Aigner (@florianaigner) April 22, 2021
Und daher ärgert es mich, wenn jetzt Mathe-LehrerInnen erklären: Das ist Didaktik! In der 2. Klasse ist 4*5 eben falsch, wenn 5*4 gefragt war! Isso!
Nein! Ihr wisst nicht, was ihr damit anrichtet!— Florian Aigner (@florianaigner) April 22, 2021
So etwas ist keine technische Harmlosigkeit! Vielleicht habt ihr gerade der nächsten Marie Curie oder dem nächsten Albert Einstein die Freude am logischen Denken zerstört. Bitte Vorsicht!
— Florian Aigner (@florianaigner) April 22, 2021
Das sagen andere User:innen:
Der Thread wurde auf Twitter sehr rege und emotional diskutiert. Die Entscheidungen der Lehrkräfte in den Beispielen wurden zwar von einigen wenigen User:innen verteidigt, stießen insgesamt aber auf deutliche Kritik. Viele User:innen haben zudem als Kind oder in der Elternrolle ähnlich frustrierende Erfahrungen gemacht. Wir haben wie üblich die treffendsten Kommentare gesammelt.
Ganz toller Thread! Genau solche Diskussionen hatte ich mit meiner Tochter auch schon, als ich mal sagte: “Das geht auch so, oder so.”
Kind dann: “Nein Papa, die Lehrerin hat aber gesagt, wir sollen das so machen.”Da platzt mir die Hutschnur!
— Frank Gregor 🌍🌾 (@_Woodbytes_) April 22, 2021
Folge: Lob vom Lehrer und er sagte, dass er nächstes Mal wohl bessere Aufgabenstellungen geben muss. War stolz wie Bolle und total motiviert!
War ein toller Lehrer!
— J😡rg Lippmann 🇪🇺 (@donalbain_de) April 22, 2021
danke. vollinhaltliche zustimmung. auch extrem mühsam: dieser beschönigende sprech drumherum. „lernzielkontrolle“, „kompetenzcheck“. die kinder merken ganz genau, dass es nur drum geht, ihre konformität abzuprüfen.
— Mira 🔴 (@miracorvino) April 22, 2021
Könnt so kotzen! Das sind dann die Kiddos, die u.a. bei mir in der Nachhilfe landen und fest davon überzeugt sind, dass sie zu doof für Mathe sind. Nach einer Stunde stellt sich heraus: Ihnen wurde einfach nur systematisch abtrainiert, an ihre eigenen Fähigkeiten zu glauben 🤬
— Schneckologin (@die_Ali_) April 22, 2021
Kolleg *innen, die so pedantisch auf ihrer Lösung bestehen, haben zu viel Zeit.
Und ich freue mich immer wie ein Kind an Weihnachten, wenn ein Kind einen eigenen Weg findet.— Giliell 🔴 (@Giliell) April 22, 2021
Die regen Diskussionen unter diesem Thread zeigen, dass man darüber uneins sein kann, ob es sinnvoll ist, den Lösungsweg in den Beispielaufgaben richtig oder falsch zu bewerten. Viel wichtiger ist jedoch eine andere Feststellung: Frustration und Angst vorm Scheitern sind unglaublich starke Emotionen. Sie haben die Kraft, uns die Freude und das Interesse an einem Thema nachhaltig zu verderben. Das ist die Macht, die Pädagoginnen und Pädagogen über ihre Schüler und Schülerinnen haben: Es liegt in ihrer Hand, ein Unterrichtsfach mit Freude und Erfolgserlebnissen zu verknüpfen. Oder eben mit Frust und Verzweiflung. Dies zu schaffen ist sicherlich keine leichte Aufgabe, erst recht nicht in schlecht ausgestatteten und überfüllten Klassen. Und doch wären wir sicher einen Schritt weiter, wenn alle Lehrkräfte dieses Privileg verstünden und zum Positiven einzusetzen wüssten!