Thread: Wir müssen über True Crime sprechen
Triggerwarnung: Dieser Beitrag thematisiert Gewalt und Mord!
True-Crime-Formate boomen. Podcasts, Magazine und Streamingdienste nehmen uns mit in die Welt der Verbrechen. Wir hören, lesen und sehen Inhalte über Serienmörder, schwere Schicksale und intimste Geschichten. Noch gibt es wenig belastbare Studien, die erklären, warum uns True Crime so magisch anzieht. Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus Emotion und Neugier. Echte Verbrechen erzeugen Mitgefühl und Entsetzen. Die Tat ist so weit weg von unserer Lebenswirklichkeit, dass wir wissen wollen, was dahintersteckt. Das Problem: Nicht immer wird in diesen Formaten verantwortungsvoll mit den Taten, Tätern, Opfern und Angehörigen umgegangen. Kriminalpsychologin und Twitteruserin @EleaBrandt spricht über die problematische Seite von True Crime.
Ihr Lieben, das wird jetzt hart für manche, aber wir müssen über True-Crime-Formate sprechen. Ich weiß, viele von euch mögen die gerne und ich will hier niemanden shamen, aber als Kriminalpsychologin finde ich viele davon echt problematisch.
CN Mord, Gewalt im Thread
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— Elea Brandt (@EleaBrandt) November 19, 2020
Vorab: Natürlich übt True Crime Faszination aus, das ist normal. Nicht umsonst sind Krimis/Thriller gefragte Genres & ich bin auch nicht grundlos in die Kriminalpsychologie gegangen. Was ich hier anbringe, gilt auch nicht für jedes Format gleichermaßen. Das nur als Disclaimer.
— Elea Brandt (@EleaBrandt) November 19, 2020
1. Ich finde es extrem unangenehm, wenn dabei private Videos oder Fotos der Verstorbenen verwendet werden. Auch die von Kindern. Diese Leute hatten keine Chance, dem zuzustimmen. Teils wird da tief in die Privatsphäre der Verstorbenen eingedrungen. Das ist echt nicht okay.
— Elea Brandt (@EleaBrandt) November 19, 2020
2. Die Idee hinter diesem Material ist oft, Mitleid mit den Opfern zu erzeugen. Das ist besser als victim blaming, klar, aber trotzdem schwierig. Es konstruiert das Narrativ vom unschuldigen, wehrlosen, netten Opfer, das von einem grausamen Monster getötet wird.
— Elea Brandt (@EleaBrandt) November 19, 2020
3. Die Realität ist selten so schwarz/weiß. Unsympathische, laute, unbequeme Opfer von Gewalt verdienen dieselbe Fairness und Anteilnahme. In der Realität erleben sie aber oft victim blaming, weil sie sich nicht verhalten, wie von ihnen erwartet wird (Beispiel: Kampusch)
— Elea Brandt (@EleaBrandt) November 19, 2020
4. Da Nuancen in Film-Formaten schwer zu transportieren sind, wird oft darauf verzichtet. Am Ende entscheiden sich die Macher*innen oft für einen Weg: das liebe, unschuldige Opfer oder das Opfer, das selbst zur Eskalation beigetragen hat. Beides ist in dieser Kürze schwierig.
— Elea Brandt (@EleaBrandt) November 19, 2020
5. Hinzukommt, dass den Macher*innen zu psychologischen Mechanismen weniger Fakten vorliegen dürften als zu offensichtlichen Eigenschaften des Falls. Das liegt in der Natur der Sache. Gerade individuelle Motive, Abläufe oder Beziehungs-Dynamiken bleiben spekulativ.
— Elea Brandt (@EleaBrandt) November 19, 2020
6. Im Film-Format muss also die Entscheidung getroffen werden: Wollen wir ein Narrativ erzählen, das irgendwie passt, oder sachlich-vage bleiben? Letzteres könnte Zuschauer*innen frustrieren und weniger Spannung bringen. Produzent*innen müssen ja an Einschaltquoten denken.
— Elea Brandt (@EleaBrandt) November 19, 2020
7. Das alles ist aber noch nicht der zentrale Punkt. Besonders problematisch finde ich Formate, die explizit bestimmte (Serien-)Mörder*innen porträtieren. Denn auch, wenn sie im Knast sitzen, verschafft ihnen das Aufmerksamkeit. Eine Menge davon.
— Elea Brandt (@EleaBrandt) November 19, 2020
8. Täter*innen mit ausgeprägtem Geltungsbedürfnis oder Machtfantasien erhalten also genau das, was möglicherweise auch die Tat beflügelt hat: Aufmerksamkeit von einem Millionenpublikum. Unbezahlbar.
— Elea Brandt (@EleaBrandt) November 19, 2020
9. Diese Aufmerksamkeit ist auch nicht immer negativ. Charles Manson erhielt in Haft immer wieder Liebesbriefe von Verehrer*innen, mit einer verlobte er sich sogar. Auch Nachahmungstäter*innen sind keine Seltenheit (das weiß man v.a. von Amoktaten).
— Elea Brandt (@EleaBrandt) November 19, 2020
10. Kurzum: Die Opfer haben oft keine Chance, sich gegen das Material zu wehren, und die Täter profitieren davon, indem sie Aufmerksamkeit erhalten. Beides ist problematisch. Dass diese Formate oft Stereotype reproduzieren (auch sexistische oder rassistische) kommt noch dazu.
— Elea Brandt (@EleaBrandt) November 19, 2020
11. Mittlerweile gibt es Überlegungen für ethische Standards. bei True Crime Shows oder Büchern. Was für seriösen Journalismus gilt, sollte auch für True Crime gelten.
Beispiel: https://t.co/C9EGGBMEx6
— Elea Brandt (@EleaBrandt) November 19, 2020
12. Doch sobald es um Klickzahlen, Aufrufe, Geld geht ist das natürlich schwierig. Sachlich-nüchterne Berichte ziehen oft weniger als spannend und reißerisch erzählte Storys mit drastischen Bildern.
— Elea Brandt (@EleaBrandt) November 19, 2020
13. Deswegen würde ich empfehlen: Checkt hier lieber gute Podcasts als TV- oder Streaming-Formate, schaut euch eventuell auch an, welche Expert*innen daran mitarbeiten und welche Quellen genutzt werden.
– Elea Ende –
— Elea Brandt (@EleaBrandt) November 19, 2020
Das sagten andere User dazu:
Auch wenn der Thread schon vor zwei Jahren veröffentlicht wurde, hat er nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Der True-Crime-Boom ist ungebrochen. Es mag inzwischen durchaus Formate gibt, die sich zu ethischen Standards für die Aufbereitung selbstverpflichtet haben, dennoch ist es wichtig, das Bewusstsein für verantwortungsvollen Umgang mit wahren Verbrechen zu schärfen. Wir haben wie üblich einige treffende Kommentare zu diesem Thema festgehalten.
Danke für diese Einordnung. Ich habe das irgendwann mal als Format gesehen und hatte – obwohl ich großer Crime/Thriller/etc Fan bin. – irgendwie Hemmungen, das anzuklicken. Du hast meine diffusen Gefühle dazu endlich sortiert.
— Anna Berg (@bergdame) November 20, 2020
Guter Thread. Hab vor Jahren gerne Crime geschaut (Bones, The Mentalist, CSI), aber es musste fiktional sein, True Crime war mir Bauchgefühl zu voyeristisch, danke für die brillante Ausformulierung desselben.
— Ute Weber (@UteWeber) November 21, 2020
Als Person, deren Angehörige ermordet wurde, möchte ich noch hinzufügen: Es ist einfach sau unangenehm, wenn man mitbekommt, wie etwas das für eine selbst traumatisierend ist anderen Menschen als Freizeitvergnügen dient.
— Lisar (@Lisarrriot) November 20, 2020
Danke f. d. Thread. 🙂
Das sind sehr gute Gedanken/Denkanstösse.
Bin ein Fan,sehe die Formate aber durchaus nicht unkritisch.
Schaue meist „Autopsie“ & „Medical Detectives“, aus Nostalgie, aber auch wg gefühlt relativ unaufgeregter Präsentation & (populär)wiss. Faktenvermittlung— Evidenzbasierte Kampfwachtel 💪🏻🩺🏳⚧ (@DurhamRed77) November 20, 2020
Einen Twitterperlen-Podcast können wir euch leider noch nicht bieten. Dafür aber die hier: