Thread: Was es bedeutet, Elternteil eines behinderten Kindes zu sein
Triggerwarnung: Dieser Beitrag thematisiert das Thema Behinderungen bei Kindern
Letzte Woche am 5. Mai war der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Und allein schon, dass es einen Protesttag braucht, zeigt, dass wir in vielen Bereichen unserer Gesellschaft noch keine Inklusion erreicht haben. Dabei geht es nicht nur um Zugang zu Gebäuden und öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern auch um das Bildungssystem, den Arbeitsmarkt sowie Sport- und Freizeitangebote. Und neben dem Zugang zu all den oben genanten Bereichen unseres Lebens kommt dann natürlich auch noch der berechtigte Wunsch nach Chancengleichheit. Dabei kämpfen Menschen mit Behinderungen vor allem mit den Tatsachen, dass sie eine unterrepräsentierte Minderheit darstellen oder im täglichen Leben gar nicht erst als beeinträchtigt wahrgenommen werden. Auch die Eltern von behinderten Kindern stoßen hierzulande im Alltag schnell an ihre Belastungsgrenzen, unter anderem aus mangelnder Rücksicht ihres Umfeldes auf ihre Situation. Es fehlt dabei nicht nur an Hilfsangeboten, sondern auch grundlegend am Bewusstsein dafür. Der Twitteruser @MitLehrer hat in dem nun folgenden Thread festgehalten, was es bedeutet, Elternteil eines solchen Kindes zu sein. Aber lest am besten selbst.
CN Behinderung, Kind
Was es (für mich gerade) bedeutet Elternteil eines behinderten Kindes zu sein. Ein paar Gedanken dazu, die mich bereits eine ganze Weile umtreiben. Ein längerer, nicht total stringenter🧵
— Lehrer Mit Bart | NRW (@MitLehrer) April 30, 2022
Die ersten Jahre mit Kind sind normaler Weise keine leichten. Meine Eltern sagten, es wird eh anders, als man sich es jemals vorgestellt hat und bin gewillt ihnen recht zugeben. Kommt nun noch eine schwere Krankheit und/oder Behinderung hinzu, kommt das alles on top.
— Lehrer Mit Bart | NRW (@MitLehrer) April 30, 2022
Neben allen „normalen“ Dingen, um die man sich kümmern muss, kommen ein Haufen medizinische und noch mehr bürokratische Aufgaben hinzu. Dazu die Angst und Ungewissheit.
Während andere mit der Familie zusammen die ersten Schritte ins Leben planen, ist man im Krankenhaus.— Lehrer Mit Bart | NRW (@MitLehrer) April 30, 2022
Man setzt sich mit Diagnosen auseinander, fragt sich, ob das alles so stimmt, was die nächsten und sinnvollsten Schritte sind. Gleichzeitig hat man keine Ahnung, was es für die Zukunft bedeutet. Die eigenen Pläne, Vorstellungen werden von der Wirklichkeit einfach geplättet.
— Lehrer Mit Bart | NRW (@MitLehrer) April 30, 2022
Plötzlich muss man sich mit Pflegegraden, Hilfsmitteln, der optimalen medizinischen Versorgung und der sinnvollsten Förderung auseinandersetzen.
Es gibt extrem viele Angebote. Man muss sie allerdings alle mühselig selbst kontaktieren und evaluieren.— Lehrer Mit Bart | NRW (@MitLehrer) April 30, 2022
Tut man dies, rennt man schnell gegen die Versorgungswand. Die Nachfrage, nach Unterstützung ist viel größer, als das Angebot. Es hilft wenig, wenn einem Haushaltshilfen, Pflegedienste, Integrationskräfte zustehen und finanziert werden, wenn es einfach keine Kapazität gibt.
— Lehrer Mit Bart | NRW (@MitLehrer) April 30, 2022
Also versucht man allein das beste für sein Kind zu machen und opfert sich auf. Man steckt selbst zurück. In allen Dingen, wohl wissend, dass alles, was man in sich selbst investiert, am eigenen Kind gespart wird.
— Lehrer Mit Bart | NRW (@MitLehrer) April 30, 2022
Es tut sich schnell mehr Arbeit auf, als man mit 2 Personen bewältigen kann. Folglich rationalisiert man. Alles wird so minimal wie möglich erledigt, um noch den 7. Dienst anzuschreiben, die 3. Reha anzufragen und in weiteres mal mit dem Spezialisten zu mailen.
— Lehrer Mit Bart | NRW (@MitLehrer) April 30, 2022
Man beginnt sich zwischen allem Nötigen aufzuteilen, sodass man allen kaum und sich eigentlich gar nicht mehr gerecht wird.
Klar ist es toll zu hören, dass man dem Kind die Behinderung ja kaum anmerkt. Ja, da haben aber auch 2 Personen bis zur Selbstaufgabe Arbeit rein gesteckt.— Lehrer Mit Bart | NRW (@MitLehrer) April 30, 2022
Ich habe gelernt, dass es auf dem Papier viele Hilfen gibt. Ich habe jedoch keine Ahnung, wie das jemand ohne den Luxus eines guten Einkommens, viel Aufopferung und der nötigen Intelligenz die Prozesse zu verstehen, nutzen soll.
— Lehrer Mit Bart | NRW (@MitLehrer) April 30, 2022
Inklusion in der Gesellschaft ist noch ein gutes Stück entfernt. Ähnlich wie Care-Arbeit gerne auf Mütter abgeschoben wird, wird die Pflege (und Förderung) bei den Angehörigen abgeladen, ohne sie großartig zu entlasten.
— Lehrer Mit Bart | NRW (@MitLehrer) April 30, 2022
Man ist gezwungen sich mit einer Menge scheiss auseinanderzusetzen, die immer on top kommt. Ich habe viele Eltern kennengelernt (ja, iwo letztlich alle), die hier an ihre Grenzen gekommen sind, zum Nachteil ihrer Kinder.
— Lehrer Mit Bart | NRW (@MitLehrer) April 30, 2022
Dann wurde die Förderung halt erst mit 3 Jahren beantragt. Eher hat man es nicht geschafft…
Wir leben in einem Land, das Mio € Provision an Einzelpersonen und Mrd € an Autofahrer zahlt. Ich fände es toll, wenn mal wenigstens 1 Mrd für Teilhabe ausgeben würde.— Lehrer Mit Bart | NRW (@MitLehrer) April 30, 2022
Das sagen andere User:
Ihr kennt jemanden, dem es ähnlich geht oder seid selbst betroffene Eltern? Schreibt uns einen Kommentar und schildert uns, wie es euch oder euren Bekannten geht. Über dieses Thema kann man sich gar nicht oft genug austauschen. Was die anderen Leserinnen und Leser dieses Threads zu sagen hatten, lest ihr jetzt hier:
Du sprichst mir aus dem Herzen.
Kaum Unterstützung, sich kümmern bis zur Selbstaufgabe weil es keine Alternative gibt. Eltern leiden massiv, Ehen, Geschwisterkinder, finanzielle Situation (an meine Rente darf ich gar nicht denken)…
Die Liste ließe sich endlos ergänzen.— DieSarah (@_Sarahsahara_) May 1, 2022
danke für den thread! schlimm, dass es so von der Selbstverantwortung der Eltern abhängt und dass so wenig Kapazitäten da sind. wir haben ein Kind mit psychischer Behinderung, aber auch viel mehr Arbeit und Sorgen und Orgakram…und man bangt, wie es später wird…
— design (@designoversense) April 30, 2022
Einsam in der Tat. Man geht halt nicht am We gross raus oder trifft andere Eltern dort, wo man sich so trifft. Die Leben sind oft so unterschiedlich, die Sorgen einfach andere. Da gibt’s wenig Zeit und Basis für Freundschaften
— Lehrer Mit Bart | NRW (@MitLehrer) May 1, 2022
Gerade die ganzen Anträge! Und dann läuft doch alles ins Leere
— roterSchuh (@roter_schuh) May 1, 2022
Danke!
Bei uns heißts auch immer wieder, dass k doch keine Behinderung haben kann, weil man im Grunde nichts merkt. Aber nicht sichtbar heißt trotzdem nicht, dass es da nichts gibt. Blasen-/Nieren-/Darmmanagemt, Physiotherapie uvm… Ja, auf den ersten Blick nicht ersichtlich…— Ichlesemit (@Ichlesemit21) May 1, 2022
haben Kita Begleitung, Autismusförderung und jetzt Inklusionsschulplatz erkämpfen müssen. Wir sind Pädagogin & Anwalt und kommen ständig an unsere Grenzen, ich möchte mir kaum vorstellen wie jemand mit weniger Zeit/Geld und fachlichen Ressourcen das bewältigt. Ich bin da bei dir!
— Gelbwolf (@gelbwolf) May 1, 2022
Ich schaue mir die Bürgersteige an, ich schaue mir die Spielplätze an, ich schaue mir Bahnhöfe und Bahnsteige an. Inklusion / Teilhabe ist nicht gewollt – wenn sie gewollt wäre, dann würden unsere Städte und Dörfer anders aussehen.
— Soeren Schmitz (@KningSoeren) May 1, 2022
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Um das Thema Inklusion dreht sich auch dieser Beitrag: