Sprachkritiker haben dem Wörtchen „Eigenverantwortung“ bereits den Negativpreis „Floskel des Jahres“ verliehen. Fehlt eigentlich nur noch das Gütesiegel (oder vielmehr Schlechtesiegel) „Unwort des Jahres“. Entfernt man sich einmal kurz vom Thema Corona, stellt man schnell fest, dass Eigenverantwortung als Argument gegen Beschränkungen eine ziemlich Mogelpackung ist. Warum sonst haben wir ein Rauchverbot in der Gastronomie und in öffentlichen Gebäuden, eine Anschnallpflicht, Tempo 50 in Ortschaften oder Ladenschlussgesetze? Die Beweggründe dieser Verbote würde man heute auch nicht mehr als schützenswerte individuelle Freiheit framen, weil man aus Erfahrung weiß, dass die Gesellschaft nun mal gewisse Regulierungen braucht, um zu funktionieren.
Dabei geht es bei Eigenverantwortung nicht immer um Egoismus und Rücksichtslosigkeit, sondern auch um die Möglichkeit, sich den Luxus leisten zu können, so zu handeln. Unter den nicht eigenverantwortlich Agierenden gibt es immer zwei Gruppen: Die eine Hälfte will nicht und die andere Hälfte kann aus (finanziellen) Gründen nicht. Deswegen werden wir auch den Klimaschutz niemals in Eigenverantwortung bewältigen können. Die Kindertagesbetreuung liefert uns da ein Beispiel, das vielen sicher schon vor der Pandemie begegnet ist: Eltern schicken ihre Kinder krank zur Schule oder in die Kita. Die Twitteruserin @danibrodesser hat darüber den nun folgenden Thread verfasst. Aber am besten lest ihr selbst, warum Eigenverantwortung auch hier einfach keine gute Idee ist.
Eigenverantwortung? Ich sag euch was es mit dieser Eigenverantwortung auf sich hat: schon vor Corona haben Eltern ihre Kinder mit fiebersenkenden Medis zugedröhnt damit diese am nächsten Tag in den Kiga/die Schule können. Aus Angst den Job zu verlieren wenn sie mal
1/7— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) July 27, 2022
wieder zuhause bleiben müssten. Weil Kinder nun mal öfters erkranken aber viele AG das nicht dulden. Glaubt ihr nicht in eurer geschützten PolitikerInnenbubble? Dann geht mal raus und plaudert mit den Leuten. Vor allem den von euch so beklatschten Systemerhalter*innen.
2/7— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) July 27, 2022
Da hört niemand „klar, bleib zu Hause wenn dein Kind krank ist“. Da hörst du ein „das geht so nicht mehr, Sie müsseneine Lösung finden für das Kind, ansonsten – gibt genug die einen Job brauchen“. Na, was machst du dann?
3/7— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) July 27, 2022
Zuhause bleiben, Job verlieren, in Armut geraten weil das Gehalt bei diesen Jobs sowieso schon mies ist und das ALG erst recht und dir dazu noch vorwerfen lassen du würdest in der sozialen Hängematte liegen und schmarotzen?
4/7— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) July 27, 2022
Nein, du versuchst dass dein Kind in die Betreuung kommt! Aber sowas ist für PolitikerInnen anscheinend unvorstellbar. Sowas gibt es nicht! Ihr werdet euch wundern wie viele Eltern ihre Kinder krank in Kiga/Schule schicken. Aber nicht weil sie
5/7— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) July 27, 2022
verantwortungslos sind sondern weil sie dank eurer Politik oft keine andere Wahl haben. Weil sie nicht riskieren können den Job zu verlieren. Weil sie dann zu jenen zählen die von euch so gern als „denen fehlen die Anreize“ oder „bemühen sich zu wenig“ bezeichnet werden!
6/7— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) July 27, 2022
Ihr habt mit eurer Politik der letzen Jahre, mit euren Stigmatisierungen genau dazu beigetragen dass wir nun nicht auf Eigenverantwortung setzen können. Gratuliere. Bügelt das aus! Sonst wird das nix mehr!
7/7— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) July 27, 2022
Das sagen andere User:
Klingt bekannt, oder? Es ist einfach eine Farce, den allgemeinen Gesundheitsschutz zur Individualentscheidung zu machen. Dies ist nur ein Beispiel, warum Eigenverantwortung nicht funktioniert, aber ein sehr, sehr treffendes. Was die Leserinnen und Leser dazu zu sagen hatten, darf hier natürlich nicht fehlen. Wir haben ein paar der treffendsten Kommentare und Reaktionen für euch gesammelt:
@danibrodesser bringt es mal wieder auf den Punkt. Wobei ich auch auf die aufmerksam machen möchte, die tatsächlich lieber arbeite in, als ein krankes Kind zu hüten. Die meinen nämlich, die Kita wäre ihr Personal.
— Sabine SaL, (@enibas_ge) July 27, 2022
Kenn ich von Freundin. Die machte dann immer HO anstatt sich kindkrank zu melden. Das ist jetzt auch wieder nicht recht weil „man will ja zur Normalität zurück“
Verstehe das wer will.— Marionka (@momofan2208) July 27, 2022
Die jetzt angeblich knapp werden. In manchen Apotheken sollen diese Fiebersenker für Kinder bereits aus sein. Es Ist sowieso schrecklich, d man Kinder gesund dopen muss, damit man in die Arbeit kann
— Marion Brantner (@MarionBrantner) July 27, 2022
Auf einen Punkt gebracht: Eigenverantwortung erfordert Handlungsfähigkeit. Das eine ohne das andere funktioniert nicht.
— geboostertes rosalu (@rosalu95115870) July 27, 2022
Es müssen die Rahmenbedingungen für Familien besser werden, damit so etwas nicht mehr nötig wird.
Und ja, Kleinkinder werden öfter mal krank. Damit muss man einfach rechnen.
Krank in den Kiga ist keine Lösung.
— Martina (@Martina24360045) July 27, 2022
Viele Eltern denken auch, wenn das Kind nach einem ganzen Vormittag vorm TV am Nachmittag dann munter wird und herumtobt, ginge es ihm gar nicht so schlecht. Nur geht es ihm da besser, weil es sich den halben Tag ausruhen konnte. Kita und Schule ist anstrengend.
— Lissys Rolfchen 💙💛 (@LissysFrauchen) July 27, 2022
Es stehen den Eltern ja auch nur begrenzte Pflegeurlaubstage zu, der auch noch beim Art extra bezahlt werden muss! Pflegeurlaubsbestätigung ist keine Kassenleistung 🤡
— Babykatzi #Frau #GinTonicLiebe | 🍸🐈🐈🐈 (@Babykatzi) July 27, 2022
Und immer wieder erstaunlich, dass Väter von potentiellen Arbeitgebern nicht gefragt werden, wer sich um ihre kranken Kinder kümmert. Als ob es nicht in ihre Verantwortung fallen würde
— Quasselette (@Quasselette) July 28, 2022
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Passend dazu haben wir noch das: