Thread: Über Stechuhr und Vertrauensarbeitszeit
Am Montag hat der Europäische Gerichtshof in Luxemburg entschieden, dass Arbeitgeber die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter systematisch erfassen müssen. Nur so lasse sich überprüfen, ob zulässige Arbeitszeiten überschritten würden. Und nur das garantiere die im EU-Recht zugesicherten Arbeitnehmerrechte.
Was auf den ersten Blick recht harmlos klingt, hat für große Entrüstung gesorgt. Arbeitgebervertreter gehen auf die Barrikaden und sehen unsere Wirtschaft bereits kurz vor dem Untergang. Vor einer „Stechuhr für alle“ oder auch dem „Ende der flexiblen Arbeitszeiten“ wird gewarnt. Gewerkschaften hingegen loben die Entscheidung des EuGH als einen wichtigen Schritt zum besseren Schutz von Arbeitnehmern.
Warum eine Arbeitszeiterfassung nicht per se ausschließlich ein bürokratisches Monster darstellen muss, sondern tatsächlich zum Wohle der Mitarbeiter und damit letztendlich auch zum Wohle der Arbeitgeber dienen könnte, zeigt der lesenswerte Thread von @bergdame und die dazugehörigen Kommentare anderer Nutzer.
Ich habe schon sowohl mit Stechuhr als auch "Vertrauensarbeitszeit" gearbeitet, in großen Unternehmen und in StartUps. Und "Vertrauensarbeitszeit" bedeutet in meiner Erfahrung vor allem unbezahlte und undokumentierte (und damit unbemerkte) Überstunden. #tagesthemen
— Anna Berg (@bergdame) May 14, 2019
Und sie bedeutet Druck auf die, die ihre Stunden zumindest einigermaßen im Blick haben möchten, weil die dann automatisch „weniger schaffen“ und „kürzer da sind“. #Arbeitszeiterfassung
— Anna Berg (@bergdame) 14. Mai 2019
Und hätte ich nicht in meinem Studi-Job die Erfahrung mit der Stechuhr im großen Betrieb mit starkem Betriebsrat gemacht, dann hätte ich nie das Selbstbewusstsein gehabt später, Überstunden zu dokumentieren und auch mal abzufeiern. #Arbeitszeiterfassung
— Anna Berg (@bergdame) 14. Mai 2019
(Ich hatte in einer Zeit meinen Berufseinstieg, in der auch Leute mit 1,0 Magisterabschluss erstmal ein Jahr lang unbezahltes Praktikum als „Einstieg“ gemacht haben und niemand (!) einen unbefristeten Vertrag hatte. Da macht man alles mit.) #Arbeitszeiterfassung
— Anna Berg (@bergdame) 14. Mai 2019
Und was so schön als „modernes Arbeiten“ gefeiert wird, das ist auch viel schlicht und einfach ein völlig entgrenztes Arbeitsleben. Abends im Bett noch schnell Mails beantworten, Telko krank im Bett von zu Hause usw. #Arbeitszeiterfassung
— Anna Berg (@bergdame) 14. Mai 2019
Und der Druck auf die, die dazu nicht oder nur bedingt bereit sind, ist enorm. Ausgesprochen wir das alles nicht, aber eben doch erwartet. #Arbeitszeiterfassung
— Anna Berg (@bergdame) 14. Mai 2019
Auch andere Nutzer berichten über ihre Erfahrungen:
Ich bin selbstständig, und Kunden wundern sich, dass ich nicht „schnell noch“ sonntags ihre Druckdaten korrigiere. Druckdaten, die sie am Donnerstag erhalten und nicht geprüft haben. Dieses Stress weitergeben ist zum Merkmal heutiger Arbeitsorganisation geworden, glaube ich.
— rudelbildung (@rudelbildung) 15. Mai 2019
Seit ich in einem großen Unternehmen mit elektron. Zeiterfassung und starkem Betriebsrat bin, bin ich mehr bereit, ab und zu länger zu bleiben, weil ich weiß, dass das erfasst wird und ich es an anderer Stelle ausgleichen kann. Ich fühle mich freier in der Gestaltung meiner Zeit.
— Katharina (@grownupgirl2017) 15. Mai 2019
Sorry aber auch tatenlos im Flugzeug etc. rumsitzen zu müssen ist KEINE Freizeit.
Das sollte endlich vernünftig geregelt werden.
Denn ohne Auftrag vom Arbeitgeber säße ich da ja nicht rum.— Einhörnchen (@urban_Sqirrel) 15. Mai 2019