Thread: Über Sinn und Zweck von Tischmanieren
Die Älteren werden sich sicher noch erinnern, dass es früher standardmäßig Leitfäden für alle Lebenslagen in Buchform gab. Manch einer musste sie gar auswendiglernen, so wie der Autor dieser Einleitung – kein Witz. Die einen kennen solche Regelwerke unter „Das gute Benehmen“, die anderen sagen schlicht „Knigge“ dazu. Inhaltlich gibt bzw. gab es kaum Unterschiede. Obwohl die Zielgruppe dieser allgemeinen Verhaltensregeln vornehmlich Jugendliche und junge Erwachsene sind, gab und gibt es immer wieder Eltern, die mit eiserner Strenge versuchen, ihren Kindern diese Manieren beizubringen und das schon möglichst früh. Dahinter steckt die Annahme, dass es leichter wird, umso eher man bei den Kids damit anfängt.
Bevor wir abschweifen und über Sinn und Unsinn von Verhaltensregeln im Allgemeinen streiten, sei euch an dieser Stelle gesagt, dass es – wie die Überschrift wohl schon verraten hat – in diesem Beitrag vornehmlich um die Manieren beim Essen geht. Stillsitzen, Besteck richtig halten, nicht mit offenem Mund kauen. Ihr kennt das Problem sicherlich noch aus der eigenen Kindheit oder habt jeden Tag einen solchen Brutling vor euch sitzen. Dass es gerade bei jüngeren Kindern in puncto Tischmanieren ohne Zwang, Bestrafung und Tränen meistens eher nicht geht, wird oftmals kleingeredet. Aber so wird aus der eigentlich wichtigen Familienzusammenkunft des gemeinsamen Essens schnell eine Tortur für Eltern und Kinder. Doch ist das wirklich sinnvoll und notwendig? Was sind eigentlich Manieren und warum glauben Eltern, dass man sie mit aller Härte durchsetzen muss? Der Kinderpsychiater @KJPGehrden hat sich ausführlich mit diesem Thema beschäftigt und gibt euch nun darauf ein paar Antworten.
„Wenn hier Messer und Gabel liegen, werden sie benutzt“, sagt der Mann am Nebentisch und nimmt seinen Achtjährigen grob die Pommes aus der Hand.
Ein kurzer Thread über Sinn und Zweck von Tischmanieren
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) August 6, 2021
Mit „Tischmanieren“ meine ich: gerade sitzen, nicht zappeln, sitzen bis alle aufgegessen haben, alles mit Messer und Gabel. Wenn Kinder dies nicht können, brauchen sie oft noch Entwicklungszeit – und ganz sicher keine Drohungen oder Strafen.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) August 6, 2021
„Sitzt gefälligst gerade!“
Wenn das „Beibringen“ von „Tischmanieren“ in einem Tonfall stattfindet, der Kinder kleinmacht, beschämt, Fehler sucht, Strafen androht, sollte schlicht darauf verzichtet werden. So lernt man nicht. Auch Kinder haben ein Recht auf ungestörte Mahlzeiten.— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) August 6, 2021
Was sind Manieren eigentlich? Geht es nur um Benimm, Regelwerk, Tradition?
Nein. Manieren sind ein sozialer Code. Nur wer ihn sicher beherrscht, kann ihn mitunter lässig ignorieren. Wer ihn nicht beherrscht, gehört nicht dazu.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) August 6, 2021
Meine Erfahrung ist: besonders Eltern mit niedrigem sozioökonomischem Status legen viel Wert auf „Manieren“. Worum geht es hier? Sie sorgen sich um die soziale Zugehörigkeit ihrer Kinder. Diese Sorge ist real. Denn unsere Gesellschaft ist hart und ungnädig zu denen „da unten“.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) August 6, 2021
Kurzfassung: ich ärgere mich zu oft über die Härte, mit denen Eltern ihre Kinder zu „Manieren“ anhalten. Doch diese Härte entspringt wohl oft eigenen Erfahrungen von Ausgrenzung, Klassismus, vielleicht sogar Verachtung. So ist unsere Gesellschaft.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) August 6, 2021
„Unser Maximilian isst doch total gerne mit den Fingern. Er lernt die Serviette ja spätestens in der Tanzschule und das Fischbesteck auf dem Frankreich-Austausch kennen.“
Diese lässige Haltung, in der ich mich auch etwas wiedererkenne, zeugt von Privilegien.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) August 6, 2021
Das sagen andere User:
Es geht anders. Man muss kein Drama daraus machen, wenn ein kleines Kind noch nicht stillsitzen oder eine Gabel richtig halten kann. Manche Kids brauchen eben länger dafür als andere. Das sahen auch die meisten Leser dieses Threads so. Ein paar der treffendsten Kommentare haben wir hier für euch gesammelt.
Und ich finde auch, dass es einen Unterschied zwischen zuhause und woanders geben sollte. Essen soll Spaß machen. Ich bin 41 und esse daheim nur dann mit Messer und Gabel, wenn dies wirklich unausweichlich ist. Und hab meist 1 Bein auf den Stuhl oben. Woanders „benehm“ ich mich.
— ǝʇʇǝlǝssɐnb (@Quasselette) August 7, 2021
Das erinnert mich an meinen Neffen als er … ich glaube um die drei Jahre alt war. Wir aßen in einem Lokal. Er hatte kurz vorher gelernt mit Gabel zu Essen. Meine Schwägerin hatte ihm sein Würstchen klein geschnitten. Bedächtig nahm er eine Wurstscheibe spießte
— Sorcha Eilish (@EilishSorcha) August 6, 2021
sie auf die Gabel und steckte sie in den Mund und aß die Scheibe. Dann nahm er die nächste mit der Hand, spießte sie auf die Gabel und aß sie. ❤️ Jetzt ist der Bua schon 17.
— Sorcha Eilish (@EilishSorcha) August 6, 2021
DaVinci ist Autist mit ADHS. Stillsitzen ist da eher nicht sein Ding, zuviel Trubel kann ihn in den Overload bringen und Essen generell ist mit gewissen Problemen behaftet. Ergo suchen wir Locations aus, bei denen er sich bewegen kann. Die die Möglichkeit bieten, sich dem Trubel
— DaVincis Mama (@SongoftheRiver1) August 7, 2021
zu entziehen. Und mittlerweile hat selbat die Grossmama kapiert, dass manches halt so ist und nicht anders geht. Zuhause isst er am liebsten allein. Jou auch gut. Alles andere macht nur Stress. Ihm und uns.
Man muss nicht alles mit Gewalt erzwingen müssen. Vieles bringt die Zeit.— DaVincis Mama (@SongoftheRiver1) August 7, 2021
Im Geunde kommt es von ganz alleine, wenn die Bezugspersonen als Vorbild funktionieren und ohne Druck. Man zeigt es, man zeigt es wieder und irgendwann lernt das Kind es und macht es nach. Mich machen solche Menschen traurig, die glauben, das es nur mit Druck und Schande geht
— Miri-Piri (@miri_piri_la) August 7, 2021
M.E. besonders schlimm wird es wenn Formulierungen wie „Wir sind hier nicht bei RTL2!“ dazu kommen.
— Tim (@TimBran18229895) August 6, 2021
Auf dem Genussbarometer für Pommes essen ( und in Ketchup oder Majo dippen )
liegt die Fingerversion ganz oben.
Messer und Gabel befinden sich dabei auf Fußbodenniveau.
( gern wörtlich )— Lynn Meadows 🔴🕯️🔴 (@LynnMea18960950) August 7, 2021
In der Tat spielt sich zu viel Regelwerk u Ermahnung ausgerechnet dort ab, wo nicht selten die einzige, ungestörte Familienzeit stattfindet.Ich fand d Balance damals tatsächlich auch schwierig.Wir haben dann zumindest d Freitag zum „Räubertag“ erklärt. Bestecklos u mit viel Spaß.
— Zimtsternfunkeln ♫♪☆ (@Zimtsternfunkel) August 7, 2021
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit. Wo wir gerade beim Thema sind, könnt ihr ja hier noch mal reinklicken: