Um die Impfbereitschaft der Bevölkerung zu erhöhen, geht jedes Land seine eigenen Wege. Wo man mit Überzeugungsarbeit und dem schieren Verweis auf Longcovid oder Lebensgefahr nicht weiterkommt, müssen kreative Lösungen her. Deswegen gibt es in vielen Ländern Belohnungen, die die Impfbereitschaft erhöhen sollen. Und was es da im Moment nicht alles gibt: Joints, Bargeld, Ziegen, Hühner, Urlaub, Rabattkarten oder die Teilnahme an diversen Tombolas und Lotterien, wo man Autos, Wohnungen, College-Stipendien oder einfach nur sehr viel Geld gewinnen kann. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt, schließlich geht es ja darum, die eigene Bevölkerung zu schützen und das Gesundheitssystem zu entlasten. Mit den zunehmend sinkenden Impfzahlen in Deutschland werden nun hierzulande auch die Stimmen lauter, man müsse endlich Anreize schaffen. Die Diskussion darüber läuft schon seit Wochen.
Im thüringischen Sonneberg wollte man nun nicht länger warten und hat Impfmuffel kurzerhand mit einer kostenlosen Bratwurst zur Spritze gelockt. Klingt typisch deutsch und irgendwie sehr klischeehaft, aber dieser ungewöhnliche kulinarische Anreiz ging am Ende auf und sorgte für eine deutlich höhere Impfquote. Zugegeben, wir haben auch geschmunzelt, als wir das erste Mal über diese Meldung gestolpert sind. Und wenn man sich am Wochenende so auf Twitter umschaute, gab es viel Hohn, Spott, aber auch ein paar treffende Witze darüber, dass es von den vielen möglichen Anreizen ausgerechnet eine Wurst vom Grill geworden ist. Denkt man aber etwas genauer darüber nach, ist diese leckere Belohnung eigentlich eine ziemlich pragmatische Lösung, die in ihrer Einfachheit fast schon wieder an Genialität grenzt. Erik Flügge hat seine Gedanken darüber in diesen sehr treffenden Thread gepresst und führt damit einmal mehr vor Augen, wie wichtig ein Perspektivwechsel sein kann.
Nachdem hier so viele Fassungslos über den Erfolg der #Bratwurst–#Impfung sind mal ein Einblick in die Entscheidungsmechanismen ärmerer Familien.
Thread ⬇️ 1/9
— Erik Flügge (@erik_fluegge) August 1, 2021
Ärmere Menschen sind nicht immer dümmer als ihr, sie entscheiden nur anders.
Das müssen sie auch. Denn zum Beispiel heißt ihre erste Frage nicht, wieviel Kalorien haben Fritten, sondern: Was kosten die? 2/9
— Erik Flügge (@erik_fluegge) August 1, 2021
Die Kostenfrage erhöht massiv den Lebensaufwand. Man muss Angebote durchsehen, in mehrere Supermärkte fahren und viel in der Familie diskutieren, wer was haben darf – sehr viel. 3/9
— Erik Flügge (@erik_fluegge) August 1, 2021
Noch dazu muss man den Gewinn durch ein Angebot mit Wegkosten verrechnen. „Da verfahren wir 1,50€ Sprit!“ bzw. brauchen Bustickets.
Ja, das wird ernsthaft genau so besprochen! 4/9— Erik Flügge (@erik_fluegge) August 1, 2021
Armut verbraucht Zeit und Energie und bringt häufig weitere Probleme mit sich: Zum Beispiel unpraktische Arbeitszeiten, Gesundheitsprobleme etc. 5/9
— Erik Flügge (@erik_fluegge) August 1, 2021
Deshalb ist alles, was mehrere Probleme in einem Moment auf einmal löst, eine bestmögliche Option. 6/9
— Erik Flügge (@erik_fluegge) August 1, 2021
Man will sich impfen lassen, muss aber auch eigentlich mit hohem Zeitaufwand günstig einkaufen und zum Impfen muss man Bustickets kaufen. So geht die Kalkulation nicht auf. Die #Bratwurst-Idee ändert das. 7/9
— Erik Flügge (@erik_fluegge) August 1, 2021
Hier heißt die Rechnung: Bratwurst = gespartes Mittagessen + was Besonders für die Kinder + endlich auch geimpft = Hingehen.
Würde auch mit Fritten und kostenfreier Hüpfburg funktionieren. Muss nicht Wurst sein. 8/9
— Erik Flügge (@erik_fluegge) August 1, 2021
Bitte seid nicht so schnell mit einem Urteil über Menschen bei der Hand, die ihr nicht versteht.
Liebe Grüße von einem aus einer Familie, die phasenweise jeden Euro 3x umdrehen musste. 9/9
— Erik Flügge (@erik_fluegge) August 1, 2021
Das sagen andere User:
Da es um die Wurst geht, mussten natürlich auch einige User ihren Senf dazugeben. Das Feedback auf den Text fiel fast durch die Bank weg positiv aus und hat tatsächlich bei einigen Lesern ein Umdenken bewirkt. Ein paar der treffendsten Kommentare haben wir hier für euch gesammelt.
Genau das. Mich nerven die arroganten Takes. Dazu kommt, dass es so eine vertrauten und soziale Atmosphäre hat, wie so ein Dorffest. Wenn dann noch Bekannte hingehen baut das Misstrauen ab. Misstrauen entsteht nicht aus Dummheit, sondern anderen Erfahrungen mit dem Staat.
— Natascha Strobl (@Natascha_Strobl) August 1, 2021
Eine sehr gute Analyse und Denkanregung. Das einzige was ich mich fragte: wie war der Anteil ärmerer Familien bei dem Impfwilligen. Diese Hypothese setzt einen hohen Anteil voraus.
— Lämêth (@Lam3th) August 1, 2021
Macht das impfen zum Event. Stellt Food Trucks mit einem „All you can eat“ Angebot vor jedes Impfzentrum Gebt den Foodtruckern ordentlich Geld und seid nicht knauserig, wenn ein schon Geimpfter kommt.
Jeder Intensivpatient kostet pro Tag mehr als ein gutes Impfangebot.— uplumtree 🌈 (@uplumtree1) August 1, 2021
Geld oder der Mangel daran wird immer wieder unterschätzt.
Ich hab momentan kaum Geld und bin deshalb zu beiden Impfterminen mit dem Fahrrad gefahren. Ein Bahnticket hin und zurück zu meinem nächsten Impfzentrum hätte jeweils 9,40€ gekostet
— Tim (@TimmySchultze1) August 1, 2021
Fahrradfahren geht schon, aber für so weite Strecken ist das anstrengend, dauert lange und ist auch nicht ganz ungefährlich, ich musste mehrere km Landstraße fahren.
Über ein kostenloses Impf-Bahnticket hätte ich mich sehr gefreut
— Tim (@TimmySchultze1) August 1, 2021
Es ist mir scheiß egal ob es die Bratwurst, Pommes, Donuts oder ein Gutschein ist, der die Leute zum Impfen bringt. Hauptsache geimpft. Mit scheint, manchen Leuten ist das nicht genug, sondern man muss sich auch mit der richtigen Geisteshaltung impfen lassen.
— Giliell 🔴 (@Giliell) August 1, 2021
Musste hier ernsthaft meine eigenen Reflexe hinterfragen. Ehrlichen Dank.
— Nils Falkenberg (@HerrFalke) August 1, 2021
Hunger bekommen? Dann wird’s Zeit für diesen schmackhaften Beitrag hier: