Wenn sie nicht gerade ausfällt oder sich verspätet, kann die Deutsche Bahn ein recht angenehmes Verkehrsmittel sein. Ja, Bahnfahren kann sogar eine der unterhaltsamsten Aktivitäten überhaupt sein. Man kann bequem sitzen, entspannen und dabei die schöne Landschaft genießen. Eine lange Reise ist eine gute Gelegenheit, um ein gutes Buch zu lesen, Musik zu hören oder sogar ein Nickerchen zu machen. Manchmal hat man auch das Glück, sich in angenehmer Gesellschaft die Zeit zu vertreiben.
Doch Vorsicht! Man weiß nie, wer oder was einem auf der Bahnfahrt begegnen wird. Mitreisende sind nämlich ein bisschen wie Lottozahlen. Ab und zu trifft man vereinzelt mal ein paar Richtige, aber leider sind auch sehr viele Nieten im Spiel. Und ehe man sich versieht, ist man in Mitten eines kleinen deutschen Dramas, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Der Twitteruser @plbkwsk hat vor Kurzem so ein Erlebnis getwittert, das wir euch an dieser Stelle nicht vorenthalten wollen. Aber lest selbst.
Ich habe mir ein Upgrade für die 1. Klasse gegönnt & sitze in einem Vierer mit Tisch. Auf den Fensterplätzen sitzt sich ein älteres Ehepaar gegenüber. Ich vermute Rentner. Sie liest, er trinkt Bier. Ich sitze am Gang. Der zweite Platz am Gang, mir gegenüber, ist noch frei. [1/15]
— Paul Bokowski (@plbkwsk) March 19, 2023
Links von uns, auf einem Einzelsitz, eine junge Frau, die ihren großen Koffer anscheinend allzeit bei sich haben möchte. Dass sich alle Menschen, die an uns vorbei wollen, an ihrem Koffer vorbeizwängen müssen, stört sie nicht. Aber egal. Nach zwei ruhigen Stunden steigt … [2/15]
— Paul Bokowski (@plbkwsk) March 19, 2023
ein Mann in meinem Alter zu. Er kommt an unseren Vierer, zeigt auf den Rentner am Fenster & sagt vier Worte. Vier wenig höfliche Worte: „Das ist mein Platz“. Der ältere Herr wirkt etwas überrascht, beginnt aber sogleich, nach kurzem Zögern, sich bereitwillig aus seinem … [3/15]
— Paul Bokowski (@plbkwsk) March 19, 2023
Sitz zu schälen. Der Mann in meinem Alter schaut ungeduldig dabei zu. Es ist eng auf den Fensterplätzen. Das ist offensichtlich. Ich traue mich und frage den Zugestiegenen, ob er nicht lieber am Gang sitzen möchte. „Mehr Beinfreiheit“, sage ich. „Nein.“ Er habe reserviert. [4/15]
— Paul Bokowski (@plbkwsk) March 19, 2023
„Wir haben alle reserviert“, rutscht es mir heraus. Aber sofort erspäht er meinen Upgrade-Zettel und sagt: „Sie nicht.“ Recht hat er. Damit habe ich mein Rederecht anscheinend verwirkt. Der Rentner gibt den Weg zum Fenstersitz frei. Der Zugestiegene stopft erst Jacke, … [5/15]
— Paul Bokowski (@plbkwsk) March 19, 2023
dann seinen massigen Rucksack in die Gepäckablage und zwängt sich auf den Fensterplatz. Er ist, wie ich, nicht mehr ganz bauchfrei. Aber sein angestrengtes Ächzen wirkt trotzdem überzogen. An wen diese Form der Wehklage gerichtet sein soll, wird aber nicht so richtig klar. [6/15]
— Paul Bokowski (@plbkwsk) March 19, 2023
Als er sich niederlässt, sagt er noch laut in die Runde: „Ich will nur nicht, dass jemand Neues kommt und dann ist Chaos“. Dieser Satz. „Ich will nur nicht, dass jemand Neues kommt und dann ist Chaos.“ Dass weder die Reservierungsanzeige, noch unser Fahrtverlauf, also … [7/15]
— Paul Bokowski (@plbkwsk) March 19, 2023
der Fahrplan dieses Zuges, einen weiteren Zwischenhalt verheißen und sicher niemand mehr zusteigen wird, verkneife ich mir. Niemand hier hat Lust auf eine Diskussion. Schnell kehrt wieder Ruhe ein. Dann aber, nach 20 Minuten, passiert etwas. Völlig unvermittelt fällt … [8/15]
— Paul Bokowski (@plbkwsk) March 19, 2023
der Rucksack des Zugestiegenen aus der Gepäckablage. Erst mit Wucht auf den Kopf des Rentners, dann donnernd mitten auf den Tisch. Das Bier kippt um. Reste spritzen über den Tisch, mich, den Gang, sogar bis rüber auf den Koffer der jungen Frau. Nach einer Schrecksekunde … [9/15]
— Paul Bokowski (@plbkwsk) March 19, 2023
packt der Zugestiegene beherzt nach seinem Rucksack, erhebt sich & stopft ihn stöhnend zurück in die Gepäckablage. Der Rentner richtet seine Brille, seine Frau liest weiter. Nur die junge Frau wischt über ihren Schalenkoffer. „Ist das Bier?“, fragt sie. Der Rentner nickt. [10/15]
— Paul Bokowski (@plbkwsk) March 19, 2023
„Oh man!“, nölt sie. Fünf Anstandssekunden warte ich, dann wieder fünf, um dem Zugestiegenen noch etwas Zeit zu geben. Zeit um Anstand oder Erziehung oder Menschlichkeit zu zeigen. Aber nichts passiert. Gar nichts. „Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“, frage ich den Rentner. [11/15]
— Paul Bokowski (@plbkwsk) March 19, 2023
„Ja.“ Sagt er ohne aufzuschauen. Das war’s. Wirklich: Das war’s. Der Kopf des Rentners, der bierbespritzte Tisch, alles egal. Nach einer letzten stillen Stunde erreichen wir das Ziel und gehen unserer Wege. – Diese Anekdote hat sich gestern zugetragen. Es ist keine … [12/15]
— Paul Bokowski (@plbkwsk) March 19, 2023
aufregende Anekdote. Ich bin so viel in deutschen Zügen unterwegs, dass ich sowas quasi ständig erlebe. In allen Abstufungen. Nach unten, wie nach oben. Aber diese Geschichte will mir nicht mehr aus dem Kopf. Weil sie so exemplarisch ist. Wie eine Metapher. Weil sie in … [13/15]
— Paul Bokowski (@plbkwsk) March 19, 2023
sonderbarer Kürze deutlich macht, was vielleicht mit uns nicht stimmt: Dass das, was uns irgendwo auf diesem Weg an Nachsicht abhanden gekommen ist, an Gelassenheit, an Umsicht, an Demut, an vorausschauender Cleverness, an Sorge und Einfühlsamkeit für unseren Nächsten … [14/15]
— Paul Bokowski (@plbkwsk) March 19, 2023
nur aufgewogen wird, nur noch gefüllt, durch eines: Egoismus. Jeder ist sich selbst der Nächste. Jeder fühlt und denkt und handelt nur so weit, wie er selbst gerade reichen kann. Keinen Millimeter weiter. Wie bitte soll diese fürchterliche Spezies noch zu retten sein? [15/15]
— Paul Bokowski (@plbkwsk) March 19, 2023
Das sagen andere User:
Wie überall gibt es unter den Bahnreisenden eben auch Menschen, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind und dabei rücksichtslos gegenüber ihren Mitreisenden handeln. Sie denken nur an sich selbst und vergessen, dass auch andere Menschen auf der Reise sind und das Recht haben, sich wohlzufühlen. Leider gibt es in unserer Gesellschaft immer mehr Menschen, die sich nur um ihr eigenes Wohlbefinden kümmern und sich keine Gedanken darüber machen, wie ihre Handlungen Mitmenschen beeinflussen können. Sie sind eine Mahnung für uns und andere, es besser zu machen. Nachfolgend haben wir ein paar treffende Kommentare und Reaktionen für euch gesammelt:
Das war spannend zu lesen.
Am Ende fiel mir Kurt Tucholsky ein:
„Wenn der Deutsche hinfällt, steht er nicht auf, sondern sieht sich um, wer ihm schadensersatzpflichtig ist.“— Thomas Weitzel (@contaowebdesign) March 19, 2023
Genau so und nicht anders sind weite Teile der Gesellschaft.
Uneinsichtiges und egozentrische präpubertierende Schulhoframbos, deren Elternhaus zu klein für gute Kinderstube war.
Mit Verlaub, dem hätte ich was erzählt. Diese Provokation darf man nicht akzeptieren.
— Hans-Jörg standing with Ukraine 💛💙 (@HBoschner) March 19, 2023
Erlebe ich jeden Tag in der sbahn. Der Rucksack hat einen eigenen Sitzplatz, wird auch nur auf direkte Ansprache weggenommen. Für ältere aufstehen ist nicht mehr, Müll bleibt liegen. Es kotzt mich an.
— Samydeluxe (@Samydeluxe4) March 19, 2023
Der Deutsche fährt halt nicht nur Auto oder Fahrrad um Recht zu haben, sondern auch Zug.
— Der Tweetiker (@DTweetiker) March 19, 2023
Danke! Das war besser als der (sehr gute) Roman, den ich gerade lese und deprimierender als die Gefühle, die ich deprimierenderweise gegenüber diesem Land habe.
— 𝚃𝚎𝚗𝚍𝚎𝚛 𝙲𝚘𝚖𝚛𝚊𝚍𝚎 (@ByMaike) March 19, 2023
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! Da wir gerade bei der Bahn sind, schaut doch hier noch rein: